Innenstädte:Onkel Google hilft

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So sah es wegen Corona in der Essener Fußgängerzone aus. Jeder zweite Händler hat keine Webseite. (Foto: Jochen Tack/Imago)

Zehntausende Händler stehen vor der Pleite. Ausgerechnet die großen Internetkonzerne sollen sie davor bewahren.

Von Michael Kläsgen, München

Nicht weniger als 250 000 Händler in Deutschland werden in den nächsten Tagen Post von Google erhalten. Der Internetkonzern will ihnen dabei helfen, im Internet sichtbarer zu werden und gegebenenfalls einen Onlineshop aufzubauen. Bislang haben sie keine eigene Website, darunter viele kleine Buchhändler, Modeboutiquen oder Bäcker. Jeder zweite Einzelhändler verkauft seine Ware ausschließlich stationär, ergab eine Anfang September veröffentlichte Studie des Deutschen Industrie- und Handelskammertages. Das Problem: Händler ohne Internetauftritt leiden besonders stark unter den Folgen der Corona-Krise, sagt Stephan Tromp, stellvertretender Hauptgeschäftsführer des Handelsverbandes Deutschland (HDE). Dem HDE zufolge sind schätzungsweise 50 000 Geschäfte von der Pleite bedroht. Betroffen sind vor allem Filialen von rein stationären Händlern. Der HDE sorgt sich daher wie viele andere um die Attraktivität der Innenstädte und fürchtet eine "Verödung" der Zentren. Denn neben den Händlern kämpfen auch Dienstleister wie Gastronomen, Hoteliers oder Friseure ums Überleben.

Bislang galt der Onlinehandel als einer der wichtigsten Gründe für den "Niedergang der Stadtzentren", von dem auch der HDE spricht. Die Grünen warnten neulich vor "Orten der Leere und der Depression" und schlugen vor, den Onlinehandel zu regulieren, etwa über eine Digitalsteuer, damit die Innenstädte attraktiv blieben. Die "Marktmacht" des Onlinehandels müsse beschnitten werden.

Ist der Onlinehandel Totengräber oder Retter der Innenstädte?

Der Vorstoß des HDE geht nun in die entgegengesetzte Richtung. Der Verband wendet sich aktiv an große wie kleine Internetunternehmen, um den Grad der Digitalisierung im Handel rasch zu erhöhen. Googles postalische Einladung an die reinen Offline-Händler ist Bestandteil einer Initiative des Verbandes "Zukunft Handel", die beide am Donnerstag vorstellten. Ziel ist es, "hybride Betriebe" zu schaffen, Läden, die online und offline präsent sind. Tromp stilisiert das Hybrid-Modell zur Überlebensfrage. "Nur wer digital sichtbar ist, kann sich weiterentwickeln", mahnt er. "Wer geht schon gern mit Maske shoppen", fragt er rhetorisch. Niemand. Am Tragen vom Mund-Nasen-Schutz werde auf absehbare Zeit kein Weg vorbeigehen. Deswegen sei ein Onlineshop unerlässlich.

Philipp Justus, Google-Chef von Zentraleuropa, wirbt auf der wegen technischer Schwierigkeiten zeitlich verzögerten Online-Pressekonferenz für die Tools, mit denen Google die Händler ins Digitalzeitalter überführen will. Google kooperiere schon seit 2014 mit dem HDE, sagt Justus. Seither hätten im Rahmen einer "Zukunftswerkstatt", wie das schon damals hieß, etwa eine Millionen Menschen an Trainings zur Digitalisierung teilgenommen. Die Dramatik der Situation im Handel heute mildert das kaum. Jetzt biete Google zusätzlich "kostenlose Daten und Diagnosetools zur Steigerung des Umsatzes auf bestehenden Webseiten", sagt Justus. Er verschweigt, dass die Händler mit der Preisgabe ihrer Daten zahlen müssen.

Über den marktbeherrschenden Onlinehändler Amazon ist nur einmal kurz auf Nachfrage die Rede. Amazon gilt vielen zu Recht oder Unrecht als so etwas wie der Totengräber der Innenstädte. Jedenfalls macht der US-Konzern seit dem Ausbruch der Corona-Krise noch einmal bessere Geschäfte als vorher, während viele andere vor dem Aus stehen. Und siehe da: Auch mit Amazon kooperiert der Handelsverband. Die Initiative "Quickstart Online" geht kommende Woche live. Seit Jahren hilft Amazon schon kleinen stationären Händlern bei der Digitalisierung und sieht sich mindestens ebenso lang dem Vorwurf ausgesetzt, sie in eine Abhängigkeit stürzen zu wollen.

An Google und Amazon komme keiner vorbei

Ohnehin ist bemerkenswert, wie viele große Unternehmen derzeit ihr Herz für die kleinen, bislang internetfernen Händler (und Gastronomen) entdecken. Auch American Express hat ein Programm ins Leben gerufen. Unter dem Motto "Shop Small/Lokale Lieblinge" leitet der Zahlungsdienstleister Händler per Video an, wie sie Social-Media-Kampagnen entwickeln oder Internetauftritte aufbauen.

Ebay ist ein weiteres bekanntes Internetunternehmen, mit dem der HDE zusammenarbeitet. Auf den ersten Blick wirkt es so, als solle der Bock zum Gärtner gemacht werden; als werde also derjenige zu Hilfe gerufen, der für die Krise des stationären Handels verantwortlich ist. Aber Roman Heimbold, Chef der Local-Commerce-Plattform Atalanda, winkt ab.

"Wenn ich als Händler erfolgreich sein will, komme ich an Google und Amazon nicht vorbei. Alles andere wäre Realitätsverweigerung", sagt Heimbold und damit ausgerechnet der Unternehmer, der kleine Händler in meist mittelgroßen deutschen Städten, derzeit sind es 30 an der Zahl, mit einer Online-Infrastruktur ausstattet. Google und Amazon, könnte man meinen, müssten seine ärgsten Konkurrenten sein. Stimmt aber nicht. "Man darf das eine nicht gegen das andere ausspielen", sagt Heimbold. Das hört sich weise und erfahren an: Es geht weder um groß gegen klein, noch um online gegen stationär. Erst wenn alles zusammenwirkt, funktioniert's vielleicht - auch zum Wohl der Innenstädte.

© SZ vom 11.09.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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