Versprechen leben weiter, auch wenn sie nicht gehalten wurden. Die Europäische Zentralbank (EZB) verspricht den 350 Millionen Menschen in der Währungsunion, dass ihr Euro morgen noch so viel wert sein wird wie heute. Das steht unverrückbar auf ihrer Internetseite, als ob es die vergangenen drei Jahre nicht gegeben hätte. In dieser Periode stieg die Inflation schlagartig auf über zehn Prozent, so hoch wie nie zuvor. Die mächtigen Notenbanker wirkten hilflos, 350 Millionen Menschen waren schockiert.
Inzwischen ist der Preisdruck spürbar zurückgegangen. Die Inflation in Deutschland betrug im August 1,9 Prozent, in der Euro-Zone 2,2 Prozent. In der nächsten Woche hat die Notenbank Spielraum, um den Leitzins weiter zu senken. Alles scheint wieder ins Lot zu kommen. Bei den Währungshütern macht sich Erleichterung breit, sie sehen sich auf gutem Wege, weil die hohen Inflationsraten der Vergangenheit angehören. Allerdings, und das kann man gar nicht überbetonen, bleiben die negativen Konsequenzen des Preisschubs bestehen. Die Lebenshaltungskosten sind in den vergangen drei Jahren enorm gestiegen. Die Bürger merken das, wenn sie Brötchen und Käse kaufen und daran erinnert werden, dass ihr Euro nicht mehr so viel wert ist wie früher. Höhere Löhne können das kompensieren. Es bleibt aber das Gefühl, dass die Währungshüter ihr Versprechen nicht halten konnten.
Die EZB ist eine privilegierte Institution. Die Notenbanker müssen nicht vom Volk gewählt werden, sie erhalten eine Berufung auf ihren Posten. Das Gehalt ist hoch, und sie unterliegen keiner politischen Weisung. Diese Unabhängigkeit ist gepaart mit der im EU-Vertrag fixierten Aufgabe, für die 350 Millionen Menschen ein wirtschaftliches Umfeld mit stabilen Preisen zu schaffen.
Notenbanken können unendlich viel Geld aus dem Ärmel zaubern, einfach so, ohne Parlamentsbeschluss. Es ist atemberaubend. Im Jahr 2008 fragten US-Parlamentarier den damaligen Chef der amerikanischen Notenbank Federal Reserve, ob er 85 Milliarden Dollar bereitstellen könne, um die Banken zu retten. Der angesprochene Ben Bernanke antwortete trocken: „Ich kann auch 800 Milliarden Dollar aufbringen.“
Viel Geld zu drucken, ist das eine. Noch wirkungsvoller sind wohl die Leitzinsentscheidungen der Notenbank. Die Höhe der Leitzinsen setzt den Grundpreis für Kredite, die Währungshüter steuern damit Finanzmarkt, Wirtschaft und schlussendlich den Wohlstand der Menschen. Aus demokratietheoretischer Sicht ist diese Machtkonzentration bemerkenswert: Eigentlich sollte man annehmen, dass weitreichende Entscheidungen wie die Festlegung von Kreditzinsen oder Billionenhilfen für den Finanzsektor von den gewählten Volksvertretern im Parlament getroffen werden.
Doch die Geschichte hat gelehrt, dass man Politikern bei der Bekämpfung der Inflation nicht trauen kann. In den 1970er- und 1980er-Jahren verzeichneten Industriestaaten zweistellige Inflationsraten, weil Politiker eher auf kurzfristiges Wachstum achteten denn auf langfristig stabile Preise. Es wuchs die Einsicht, dass unabhängige Zentralbanken, die wichtige, aber unpopuläre Entscheidungen treffen, besser geeignet sind, die Inflation im Zaum zu halten. Das Vorbild für die Welt war die Unabhängigkeit der Bundesbank, die sich politisch ungerührt auf die Stabilität der D-Mark konzentrierte.
Von den 1990er-Jahren an nahmen immer mehr unabhängige Zentralbanken ihre Arbeit auf, darunter 1999 auch die EZB. Gleichzeitig löste der Fall der Mauer 1989, der folgende Kollaps des Sowjetreichs und die weltwirtschaftliche Integration Chinas einen neuen Globalisierungsschub aus. Die Inflation in den Industriestaaten blieb fortan niedrig, teils wegen des latenten Kostendrucks durch die Globalisierung, teils weil die unabhängigen Währungshüter keine Dummheiten machten. Das Phänomen Inflation geriet in den folgenden beiden Jahrzehnten in Vergessenheit, sie schien, zumindest in den Industriestaaten, besiegt zu sein.
Die EZB überlegte lange, ob sie die Zinsen überhaupt anheben soll – ein Fehler
So darf man sich 2021 die Gemütslage in den Türmen der EZB vorstellen, als die Preise langsam anzogen. EZB-Präsidentin Christine Lagarde und ihre Kollegen glaubten einfach nicht, dass die Inflation stark steigen würde. Sie überlegten lange, ob sie die Leitzinsen überhaupt erhöhen sollten. Das war ein Fehler. Allerdings gab es für den rasanten Preisanstieg besondere Ursachen. Es war ein Mix, den man so noch nicht gesehen hatte: Der wirtschaftliche Lockdown zur Bekämpfung der Corona-Pandemie führte von 2020 an zu Lieferengpässen, Waren wurden knapp und teuer. Gleichzeitig zahlten Regierungen in den Industriestaaten Finanzhilfen an ihre Bürger aus. Dieses Geld floss nach Aufhebung des Lockdowns sofort in den Konsum – auch das erzeugte einen Preisschub. Dann marschierte Russland im Februar 2022 in die Ukraine ein, die Energiepreise kletterten exorbitant.
Diese Melange aus Angebots- und Nachfrageschock infolge einer weltweiten Pandemie und eines global ausstrahlenden Krieges spiegelt die neue Realität, mit der Notenbanken bei der Inflationsbekämpfung künftig umgehen müssen. Die Weltwirtschaft und ihre Preisentwicklung haben sich grundlegend verändert. Militärische Konflikte, zunehmender Protektionismus und der Klimawandel sind einflussreichere Determinanten für das Preisniveau geworden. Die Konsequenzen sind messbar: So verzeichnen Länder, die an ein Kriegsgebiet angrenzen, im Schnitt fünf Prozentpunkte mehr Inflation als andere, so eine Studie. Ähnlich bei den Folgen des Klimawandels: Extreme Dürren, so eine Untersuchung, können Lebensmittelpreise um ein bis zwei Prozent verteuern.
„Die Globalisierung hat die Inflation seit den 1990er-Jahren gedämpft, doch nun erleben wir eine Deglobalisierung aufgrund des Konflikts zwischen den USA und China. Es wird daher grundsätzlich schwieriger, die Inflation niedrig zu halten“, sagt Jörg Krämer, Chefvolkswirt der Commerzbank. Das gelte auch für die beste Zentralbank. Die Währungshüter müssten wachsamer und konsequenter bei ihren Entscheidungen sein, es würden weniger Fehler verziehen.
Darüber hinaus agieren die EZB, Federal Reserve und andere wichtige Notenbanken seit dem Ausbruch der globalen Finanzkrise 2008 als resolute Krisenmanager. Die Währungshüter öffneten damals die Geldschleusen und pumpten Billionen in die Anleihemärkte, um das Finanzsystem zu retten und die Euro-Zone vor dem Kollaps zu bewahren. Viele Bürger atmeten auf, sie waren aber auch erstaunt. Schau an, die EZB mit Mario Draghi und später Christine Lagarde an der Spitze kann einfach mal Billionen Euro investieren. Woher kommt das Geld, und besitzt sie dafür das demokratische Mandat? Manche meinten, nein. Der Kauf von Staatsanleihen durch die EZB sei illegale Staatsfinanzierung, trugen Kläger beim Bundesverfassungsgericht vor. Der juristische Streit unterstreicht, wie kritisch Teile der Gesellschaft bestimmte Maßnahmen der Notenbank beurteilen. Auch die EZB bleibt nicht verschont vom schwindenden Vertrauen in demokratische Institutionen. Das liegt auch an den Nebenwirkungen ihrer Geldpolitik.
Reiche profitierten vom Immobilien- und Aktienboom
Während der Niedrigzinsphase ab 2013 warfen die Sparbücher nichts ab, Immobilien- und Aktienbesitzer, sprich sowieso bereits vermögende Menschen, profitierten hingegen vom Börsenboom. Es ist eben so: Haushalte mit wenig Einkommen können sich Aktien und Immobilien nicht leisten. Als dann von 2022 an die Inflation stark anstieg und die EZB die Leitzinsen erhöhte, gab es ein ähnliches Bild: Einkommensschwache Familien litten besonders unter den steigenden Kosten für Energie, Lebensmittel und Dienstleistungen. Vermögende Haushalte kamen besser durch diese Phase, zumal die Börsen weiter stiegen.
Diese Verteilungsfragen haben heutzutage eine viel größere gesellschaftliche Brisanz als noch vor 15 Jahren, wie die Debatte hierzulande um die Einführung einer Reichensteuer zeigen. Die Geldpolitik sorgte mit dafür, dass reiche Menschen noch reicher wurden. Der aktuelle Bericht Inequality Inc. der Entwicklungsorganisation Oxfam zur sozialen Ungleichheit 2024 zeigt: Die fünf reichsten Männer der Welt haben ihr Vermögen seit 2020 von 405 Milliarden US-Dollar auf 869 Milliarden Dollar mehr als verdoppelt. Ihr Vermögen sei damit dreimal so schnell gewachsen wie die Inflationsrate. Zudem komme der Aktienbesitz in erster Linie den reichsten Menschen der Welt zugute.
Eine weitere Verteilungsunwucht entstand, weil die höheren Leitzinsen vor allem Europas Großbanken nützen, die mit ihren Einlagen bei der Notenbank Milliardenprofite einstreichen, während die Anleihekäufe in Billionenhöhe aus der Draghi-Zeit wegen der hohen Leitzinsen nun hohe Verluste abwerfen. Die Bundesbank verbuchte 2023 ein Minus von rund 21 Milliarden Euro, auch in den nächsten Jahren wird es rote Zahlen geben. Der deutsche Steuerzahler geht leer aus, während Banken und Milliardäre von der Draghi-Politik profitiert haben. Dass die EZB darüber hinaus die Entwicklung des digitalen Euro vorantreibt, den mancher Bürger als ersten Schritt in Richtung Überwachungsstaat wahrnimmt, unterstreicht, wie schnell die EZB mit ihrer Arbeit inzwischen in scharfe gesellschaftliche Kontroversen rutscht.
Das Zerren um die Zentralbanken könnte sich noch verschärfen. Die meisten Euro-Staaten und die USA sind hoch verschuldet. Leitzinsänderungen der EZB und der Fed haben unmittelbar Auswirkungen auf den Staatshaushalt. Jeder Prozentpunkt weniger reduziert den Schuldendienst – entsprechend stark der politische Druck, die Zinsen stärker zu senken, als vielleicht gut wäre, immer mit Verweis auf riesige öffentliche Investitionsbedürfnisse im Bereich grüne Transformation, Militär und Bildung. „Das Regieren in den Demokratien ist schwieriger geworden. Koalitionen aus drei oder mehr Parteien sind im Ernstfall vielleicht nicht handlungsfähig“, befürchtet Markus Brunnermeier, Ökonom an der US-Universität Princeton. „Dann müsste die Zentralbank die Hauptlast übernehmen, die Ökonomie zu stimulieren. Zudem könnten Populisten an der Unabhängigkeit der Zentralbanken sägen, wie Donald Trump in den USA zeigt.“ Die Zeiten für Währungshüter, sie könnten noch rauer werden.