Verteilungspolitik:Was die Regierung jetzt für Geringverdiener tun muss

Verteilungspolitik: Die Fahrt zur Tankstelle wird für viele Bundesbürger zum Preisschock.

Die Fahrt zur Tankstelle wird für viele Bundesbürger zum Preisschock.

(Foto: Stefan Sauer/dpa)

Inflation, Corona-Krise, Arbeitswandel: Für Millionen Bürger ist es finanziell knapp. Die neue Bundesregierung sollte daran schnell etwas ändern.

Kommentar von Alexander Hagelüken

Manchmal kommt viel zusammen. Die Corona-Pandemie hat den Deutschen vorgeführt, wie schnell ihre Stelle weg sein kann. Und kaum hat die Arbeitslosigkeit wieder abgenommen und mit ihr die Unsicherheit, treibt die Menschen die nächste Sorge um. Hohe Preissteigerungen zehren am Einkommen, zumindest vorübergehend. Man sollte dabei nicht vergessen, dass solche Entwicklungen manche stärker treffen als andere.

Jeder fünfte Arbeitnehmer verdient nur bis zu gut 2000 Euro brutto monatlich, obwohl er Vollzeit arbeitet, so eine neue Studie. Addiert man Teilzeit, andere schlecht bezahlte Jobs und all die Familien dazu, ist es bei vielen Millionen Menschen finanziell knapp. Das macht sich in ihrem Alltag immer bemerkbar, aber in solchen Zeiten besonders.

Zieht man die Inflation ab, sind die Löhne 2021 um etwa 1,5 Prozent geschrumpft. Das merkt natürlich gerade, wer ohnehin wenig verdient - und wer vielleicht vorher durch Kurzarbeit Einbußen hatte. Und so geht es weiter. Bei Haushalten mit wenig Einkommen fließen normalerweise zehn Prozent der Konsumausgaben in Wohnenergie, doppelt so viel wie in der höchsten Verdienstklasse. Das meldet nun das Statistische Bundesamt, wobei der Preisschock bei Energie im vergangenen Jahr noch gar nicht berücksichtigt ist. Zu diesen aktuellen Kosten kommen langfristige. Die Mieten in Großstädten sind in der letzten Dekade um 30 bis 60 Prozent gestiegen.

Das alles könnte Anlass für die neue Regierung sein, sich um Bürger mit wenig Einkommen umfassender zu kümmern. Nicht nur kurzfristig wie mit dem neuen Heizkostenzuschuss, den Bezieher von Wohngeld erhalten sollen. Es geht darum, Millionen Beschäftigte besser zu stellen, denen es in einem reichen Land besser gehen könnte.

Ihr überschaubarer Verdienst kommt ja nicht daher, dass sie weniger hart arbeiten würden. Der Arbeitsmarkt hat sich grundlegend verändert, durch Technologie, Globalisierung und neoliberale Ideologie. Unternehmen zahlen seltener Tariflöhne als früher, als die Gewinnmaximierung noch nicht über allem thronte. Viele Industrieprodukte werden heute woanders auf dem Globus gefertigt, sodass Arbeitsplätze verloren gehen wie jetzt womöglich bei den insolventen MV Werften in Mecklenburg-Vorpommern. Dienstleistungsjobs, die ersatzweise entstehen, sind häufig schlechter bezahlt. Der Niedriglohnsektor schwoll an, weil die Machtbalance in zahlreichen Branchen zugunsten der Arbeitgeber kippte.

Eine Regierung ist dagegen nicht machtlos. Die deutschen Politiker haben nur lange so getan, als seien sie es. Sie ignorierten den Verfall der Tarifbindung, die einst maßgeblich dazu beitrug, eine starke Mittelschicht entstehen zu lassen. Und sie führten erst Jahrzehnte nach anderen Industriestaaten einen Mindestlohn ein, der durch dieses Zaudern zu niedrig ausfällt. Von diesem Kurs sozialer Kälte sollte sich die neue Regierung entschieden absetzen.

Man kann SPD-Kanzler Olaf Scholz zugutehalten, dass er den Mindestlohn auf zwölf Euro steigern will. Damit wäre die Lohnuntergrenze 40 Prozent höher als bei ihrer Einführung 2015 - ein deutliches Plus, von dem rund zehn Millionen Bürger profitieren würden. Nun muss Scholz seine Ankündigung gegen die Widerstände durchsetzen - und dann weitermachen.

Außerdem müsste die Regierung Scholz den Verfall der Tariflöhne stoppen

Für Wenigverdiener wäre wichtig, dass vom Bruttolohn mehr bleibt. Bei ihnen führen weniger Steuern als eher Sozialbeiträge zu hohen Abzügen. Das ließe sich durch eine Reform abmildern. Außerdem müsste die Regierung Scholz den Verfall der Tariflöhne stoppen, die vor 25 Jahren noch 70 Prozent westdeutscher Arbeitnehmer erhielten und heute unter 50. Staatliche Aufträge nur an tarifgebundene Firmen zu vergeben, wäre der erste Schritt.

Auch wenn Kapitalismuskritiker das ungern hören, hilft den Arbeitnehmern noch etwas: Wachstum. Im zehnjährigen Boom vor Corona schrumpfte die Zahl jener mit wenig Einkommen. Eine gute Regierung baut jetzt die Wirtschaft digital und klimagerecht um - was unter Kanzlerin Merkel unterblieb - und schafft so die Basis für mehr Wohlstand.

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