Weil die Preise stark steigen, fühlen sich viele Deutsche derzeit ärmer als sonst. Jetzt gibt es erstmals einen harten Beleg dafür, dass diese Empfindung richtig ist: Die Tariflöhne steigen dieses Jahr im Schnitt um 1,7 Prozent, berichtet das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI). Angesichts von voraussichtlich rund drei Prozent Jahresinflation sinkt das Einkommen preisbereinigt also deutlich. Lässt man die Steuerfreiheit der vielfach gezahlten Corona-Prämien außen vor, ergibt sich im Schnitt 1,4 Prozent weniger realer Lohn - so etwas haben die Deutschen seit Jahrzehnten nicht erlebt.
Bei dem außergewöhnlichen Verlust an Kaufkraft kommt zweierlei zusammen. Zum einen hat die Corona-Krise viele Firmen getroffen. Um die Lage nicht zu verschlimmern, hielten sich die Gewerkschaften in den Tarifverhandlungen zurück. So vereinbarte die IG Metall für vier Millionen Beschäftigte nur eine Corona-Prämie und Sonderzahlungen. Vor Abzug der Inflation nahmen die Tarifgehälter bundesweit mit 1,7 Prozent geringer zu als in früheren Jahren - zwischen 2012 und 2019 waren die Löhne nominal immer zwischen 2,4 und 3,1 Prozent gewachsen.
Gleichzeitig schießen die Preise vor allem durch Sondereffekte der Pandemie durch die Decke. So fällt dieses Jahr wieder die übliche, 2020 vorübergehend gesenkte Mehrwertsteuer an. Außerdem fragen Firmen und Verbraucher wie nach anderen Wirtschaftskrisen viel mehr nach. Hersteller, die ihre Produktion zurückgefahren hatten, kommen erst mal nicht hinterher. Besonders stark steigen die Energiepreise. Transportprobleme verschärfen die Lage. Im November standen die Verbraucherpreise 5,2 Prozent höher als ein Jahr zuvor. Im Jahresschnitt dürften es rund drei Prozent sein.
Die meisten Ökonomen halten diese hohe Inflation wegen der Sondereffekte für temporär. Sie rechnen für 2022 mit nur zwei bis 2,5 Prozent, danach mit weniger. Doch dieses Jahr wirkt eben die hohe Inflation - und mindert das Einkommen der Deutschen beim Einkaufen.
In der Realität dürfte der Reallohnverlust allerdings geringer ausfallen als 1,4 Prozent. Denn in vielen Tarifabschlüssen wurden Corona-Prämien vereinbart. In der Metallbranche und am Bau betragen diese 500 Euro, für Beschäftigte der Bundesländer gibt es demnächst 1300 Euro. Dass diese Prämien für den Arbeitnehmer steuer- und abgabenfrei sind, reduziert den Reallohnverlust etwas. Trotzdem bleibt eine außergewöhnliche Einbuße. In den vergangenen 20 Jahren gab es nur drei Mal Reallohnverluste, und die waren mit je 0,1 Prozent geringer als dieses Jahr. In den 2010-er Jahren stiegen die Reallöhne durchschnittlich jedes Jahr um 1,4 Prozent.
Wer nicht nach Tarif bezahlt wird, hat durch die Inflation ein noch größeres Problem
Die WSI-Berechnung erfasst nur die rund 20 Millionen Arbeitnehmer, die nach Tarif bezahlt werden. Sie ist aber ein Indikator für die allgemeine Lohnentwicklung. Wer nicht nach einem gewerkschaftlich ausgehandelten Tarif bezahlt wird, verdient oft weniger - hat also durch die Inflation wahrscheinlich ein noch größeres Problem.
Forscher fürchten, dass die Gewerkschaften im kommenden Jahr auf den Reallohnschock reagieren und drastische Lohnsteigerungen durchsetzen. In den 1970er Jahren gab es Lohn-Preis-Spiralen, bei denen sich Inflation und teils zweistellige Lohnerhöhungen gegenseitig hochschaukelten. Die bisherigen Äußerungen der Gewerkschaften nähren diese Sorge allerdings nicht. So fordert die IG BCE für die drittgrößte Industriebranche Chemie zwar mindestens einen Ausgleich der Inflation. Ihre genaue Forderung will sie aber im Frühjahr 2022 an der dann aktuellen Preissteigerung ausrichten - und nicht an der hohen Inflation dieses Jahr.
"Für das von einigen an die Wand gemalte Schreckgespenst einer Lohn-Preis-Spirale findet sich in den Tarifdaten bislang keinerlei Grundlage", erklärt Thorsten Schulten vom gewerkschaftsnahen WSI. Er sagt aber auch: "Wenn wir in Deutschland ein paar Jahre hohe Inflationsraten haben, müssen die Gewerkschaften das berücksichtigen."