Preise:EZB bietet Inflationsrechner für alle

File photo of man carrying shopping bag in the colours of the German national flag in downtown Hanover

Die offizielle Inflationsrate gibt oft nicht die Lebenswirklichkeit der Bürger wider.

(Foto: FABIAN BIMMER/REUTERS)

Lebensmittel, Miete, Energie: Auf der Homepage der Europäischen Zentralbank können Bürger jetzt ausrechnen, wie ihre persönlichen Kosten steigen.

Von Markus Zydra, Frankfurt

Bei der Inflation ist es wie im Fußball. In Deutschland leben zig Millionen Bundesermittler, von denen jeder ganz genau sagen kann, ob die Preise für den Lebensunterhalt nun steigen oder fallen. Diese gefühlte Inflation deckt sich allerdings überhaupt nicht mit den offiziell ermittelten Daten. Die EU-Kommission stellt jedes Jahr in Umfragen fest, dass die Bürger die Preiserhöhungen viel stärker empfinden, als es die EU-Statistikbehörde Eurostat ausweist. So lag die offizielle Teuerungsrate Anfang dieses Jahres bei rund einem Prozent, die Menschen taxierten ihre persönliche Inflation jedoch auf 4,5 Prozent.

Die Europäische Zentralbank hat auf ihrer Homepage nun ein Tool entwickelt, mit dem jeder Bürger seine individuelle Inflationsrate berechnen kann. Man muss entsprechende Ausgabenposten in eine Spalte eintragen, etwa monatliche Kosten für Wohnen, Lebensmittel, Alkohol und Bekleidung. Mit den Informationen wird dann die persönliche Inflationsrate ermittelt. Das Tool erklärt auch detailliert, wie der offizielle Warenkorb bestückt ist, mit dem Eurostat regelmäßig die Inflationsrate berechnet.

Der "Inflationsrechner" ist Teil einer neuen Kommunikationsstrategie. EZB-Präsidentin Christine Lagarde möchte die Bürger der Währungsunion stärker einbinden. In den vergangenen Jahren musste die Notenbank viel Kritik einstecken, vor allem in Deutschland halten viele Menschen die Nullzinspolitik für falsch. Immer wieder gab es Verfassungsbeschwerden gegen die Geldpolitik.

Auch die Höhe der Inflation steht im Zentrum des Clinchs, denn die EZB orientiert ihre Entscheidungen an der offiziell gemessenen Inflationsrate. Die liegt nun seit fast einer Dekade unter dem angestrebten Ziel von unter, aber nahe zwei Prozent. Wenn die Währungshüter stattdessen die deutlich höhere, gefühlte Inflation der Bürger zugrunde legen würden, dann hätten sie ihre lockere Geldpolitik schon längst beenden müssen. Diese Diskrepanz bei der Inflationswahrnehmung kann langfristig das Vertrauen in die Notenbank untergraben. Schon nach der Währungsumstellung von der D-Mark auf den Euro 2002 beklagten viele Deutsche, dass sich Preise über Nacht fast verdoppelt hätten. Aber die offiziellen Daten wiesen diese Teuerung nicht aus.

Immobilien- und Mietpreise sind deutlich gestiegen

Besonders die Gewichtung und Messung der Wohnkosten im Warenkorb decken sich wenig mit der Realität der Verbraucher. Die Häuserpreise sind zwischen 2015 und 2020 in den europäischen Großstädten um bis zu 50 Prozent gestiegen, und wer umzog, merkte: Auch die Mieten zogen deutlich an. Große Teile der Bevölkerung müssen fast die Hälfte ihres verfügbaren Einkommens für Wohnkosten aufbringen, meldet das Statistische Bundesamt. Doch im Inflationswarenkorb sind diese Preiserhöhungen gering gewichtet, vor allem die Kosten für selbst genutztes Wohneigentum. An der Lösung dieses Problems wird derzeit gearbeitet.

Dazu kommt der Vorwurf, die Inflationsmessung verschleiere die zunehmende Ungleichheit bei der Wohlstandsverteilung: "Die Preissteigerungen in Europa gingen in den letzten Jahren zu Lasten ärmerer Menschen, aber die offizielle Inflationsrate drückt diesen Effekt nicht aus", sagt Alfons Weichenrieder, Professor für Finanzwissenschaft an der Goethe-Universität in Frankfurt. In seiner Studie, die sich auf die Jahre 2001 bis 2015 bezieht, stellte der Ökonom fest, dass notwendige Ausgaben, zum Beispiel für Nahrung, Mieten und Energie, bei weniger finanzkräftigen Familien einen größeren Anteil des Budgets ausmachen als bei reicheren Familien.

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