Süddeutsche Zeitung

Industrie:So wenig Stahl wie seit der Finanzkrise nicht

Hiesige Hersteller leiden unter der schwachen Nachfrage - und es droht weiteres Ungemach.

Von Benedikt Müller, Düsseldorf

Wenn es der Industrie schlecht geht, dann spüren Stahlhersteller dies mit als erstes. Ihr Stoff steckt in praktisch jeder Maschine, jedem Auto, jedem Gebäude. Umso trister fällt die Bilanz aus, welche die Wirtschaftsvereinigung Stahl nun zieht: 2019 haben deutsche Produzenten demnach 6,5 Prozent weniger Stahl hergestellt als im Vorjahr - so wenig wie seit dem Finanzkrisenjahr 2009 nicht mehr. "Wir erleben konjunkturell ein außerordentlich herausforderndes Umfeld", sagt Verbandspräsident Hans Jürgen Kerkhoff.

Und je schlechter es den Stahlherstellern mit ihren 84 000 Beschäftigten in Deutschland geht, desto mehr stellt sich die Frage, ob sich die Branche den langfristig nötigen Wandel wird leisten können: weg von der Kohle und den vielen klimaschädlichen Treibhausgasen, hin zu neuen Anlagen für CO₂-neutralen, grünen Stahl.

Ein Problem der Branche ist, dass große Abnehmer schwächeln. Beispielsweise hat die Autoindustrie in 2019 in mehreren großen Märkten wie China oder den USA weniger Fahrzeuge verkauft als im Vorjahr. Eine Ursache dafür sind die weltweiten Handelskonflikte. Auch die hierzulande so wichtigen Maschinen- und Anlagenbauer melden derzeit Produktionsrückgänge.

Hinzu kommt, dass sich die Stahlindustrie weltweit einen harten Wettbewerb liefert. Vor allem China hat seit der Jahrtausendwende viele neue Werke gebaut. "Die Überkapazitäten auf den weltweiten Stahlmärkten bestehen weiter fort", konstatiert Kerkhoff. Dies setzt Hersteller in Ländern mit höheren Löhnen und Auflagen unter Druck. Viele versuchen, sich auf besonders feste oder leichte Sorten zu spezialisieren.

US-Präsident Donald Trump hat vor zwei Jahren auf seine Art auf die Misere reagiert und einen 25-prozentigen Zoll auf Stahleinfuhren verordnet. Dies soll in Amerika heimische Hersteller aufpäppeln. "Wir müssen uns damit auseinandersetzen, dass die hohen Stahlzölle in den USA auch über dieses Jahr hinaus bestehen bleiben dürften", prognostiziert Kerkhoff. In der Folge ist vor allem in 2018 deutlich mehr Stahl aus Ländern wie der Türkei oder Russland in Europa gelandet - zusätzliche Konkurrenz für hiesige Hersteller.

Zwar hat die EU daraufhin ihrerseits zollfreie Stahlimporte beschränkt. Doch zeigen diese Klauseln laut Kerkhoff nicht die erhoffte Wirkung. Brüssel habe die Kontingente für zollfreie Einfuhren wieder angehoben, trotz des Abschwungs. "Wir fordern von der EU eine Revision dieser Schutzmaßnahmen", sagt Kerkhoff.

Der Branche droht in den nächsten Jahren weiteres Ungemach

Längst spiegelt sich die Gemengelage in schlechten Zahlen und schlechten Nachrichten für die Beschäftigten wider. So hat Deutschlands größter Stahlhersteller Thyssenkrupp im vergangenen Geschäftsjahr kaum noch Geld in seinem Stammgeschäft verdient. In der Stahlsparte des Konzerns sollen bis zu 2000 Arbeitsplätze wegfallen; einzelnen Anlagen im Ruhrgebiet droht das Aus. Konkurrent Salzgitter meldet für das abgelaufene Jahr gar einen Verlust von mindestens 250 Millionen Euro.

Dabei droht der Branche in den nächsten Jahren weiteres Ungemach. Denn sie ist einer der größten CO₂-Emittenten, auch in Deutschland. Das Treibhausgas entweicht bislang unweigerlich, wenn Erz und Kohle im Hochofen zu Eisen schmelzen. Bislang teilt die EU der Stahlbranche noch viele CO₂-Emissionsrechte kostenlos zu, weil sie nun mal im weltweiten Wettbewerb steht. Künftig sollen die Hersteller aber mehr Zertifikate kaufen müssen - deren Preis hat sich in den vergangenen Jahren vervielfacht.

Die Wirtschaftsvereinigung Stahl erwartet, dass ihre Mitglieder von 2021 bis 2030 insgesamt 3,5 Milliarden Euro für Emissionsrechte werden ausgeben müssen. "Das sind Belastungen, die andere Stahlhersteller in anderen Regionen nicht tragen müssen", kritisiert Kerkhoff, "die Politik entzieht der Branche so Mittel für Klimaschutz-Investitionen". Denn die hiesige Stahlindustrie wolle ja bis 2050 klimaneutral und mithin ein Vorbild werden. Die Unternehmen seien dafür aber "auf entsprechende politische Rahmenbedingungen angewiesen", so der Verbandspräsident.

Salzgitter setzt hierbei etwa auf Öfen, in denen Wasserstoff die Kohle ersetzen soll. Die CO₂-Bilanz geht dann auf, wenn der Wasserstoff zuvor per Elektrolyse mit Ökostrom gewonnen wurde. Thyssenkrupp experimentiert derweil damit, Wasserstoff statt Kohlenstaub in einen konventionellen Hochofen einzublasen. Zudem haben die Duisburger einen Laborbetrieb, in dem sie Hüttengase einfangen und zu Chemikalien verarbeiten.

Allerdings gehen die Konzerne davon aus, dass die nötigen neuen Anlagen viele Milliarden kosten werden. Kerkhoff wirbt dafür, dass der Staat den Wandel unterstützen sollte: "In der Stahlindustrie ist der Hebel vergleichsweise hoch, mit der Förderung neuer Technologien den CO₂-Ausstoß zu senken", so der Branchenvertreter. Wichtig sei freilich auch, dass Märkte für klimafreundliche Grundstoffe wie grünen Stahl entstünden. "Wir wünschen uns positive Anreize für die Abnehmerindustrien." Kerkhoff kann sich etwa vorstellen, dass CO₂-armer Stahl als "Ökoinnovation" anerkannt und angerechnet werden könnte - etwa bei den Flottengrenzwerten der Autoindustrie, jenes so wichtigen Abnehmers.

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SZ vom 29.01.2020
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