Süddeutsche Zeitung

Industrie 4.0:Zurück in die Zukunft

Neue politische Konstellationen und die Digitalisierung verändern die weltweiten Handelsströme. Künftig könnte wieder verstärkt in den Industriestaaten statt in Billiglohnländern produziert werden.

Von Norbert Hofmann

Für US-Präsident Donald Trump sind sie ein Ärgernis: die deutschen Exportüberschüsse. Erst im März erreichten sie mit 118,2 Milliarden Euro ein neues Rekordvolumen. Aufgrund des schwachen Euro gegenüber der US-amerikanischen und der chinesischen Währung konnten Abnehmer aus diesen Ländern deutsche Waren günstig einkaufen. Auch Japans Wirtschaft profitiert von Währungsvorteilen. Durch den schwachen Yen stiegen die Exporte, Nippons Wirtschaft befindet sich nun schon seit 15 Monaten auf Wachstumskurs. Doch können sich Deutschland und Japan weiter auf einen ungestörten globalen Handel verlassen? Was ist, wenn Trump weiterhin auf Abschottung setzt?

Ganz so einfach wird es nicht werden. "Gezielte Strafzölle gegen einzelne Staaten wie Deutschland oder Mexiko wären eine Diskriminierung von Handelspartnern und nach den rechtlichen Vorgaben der Welthandelsorganisation WTO nicht zulässig", sagt André Wolf, Experte beim Hamburgischen Weltwirtschaftsinstitut (HWWI). Trump könnte zwar einen internationalen Rechtsstreit oder sogar den Austritt der USA aus der WTO riskieren. Da aber droht Widerstand in den eigenen Reihen. Auch für neue Zölle bedarf es der Zustimmung beider Kammern des Kongresses. "Dort haben zwar die Republikaner die Mehrheit, aber auch unter ihnen gibt es viele Anhänger des Freihandels", sagt Wolf. Die Chancen und Risiken des globalen Handels sind nicht nur in den USA umstritten.

Große Konzerne nutzen Steuervorteile, die kleinen Betrieben nicht zugänglich sind

Befürworter sehen sie als eine Form des Wettbewerbs, der zu mehr Wohlstand für alle führt. Kritiker verweisen auf Klimaschäden durch rund um den Globus jagende Transporte, das Risiko weltweiter Finanzkrisen und einen globalen Trend zu Lohndumping. Hinzu kommen ungleiche Chancen auf Unternehmensebene. Große Konzerne nutzen weltweit Steuerschlupflöcher und verschaffen sich damit Vorteile, die dem Mittelstand nicht zugänglich sind. Die EU hat deshalb bereits Maßnahmen zur Begrenzung der Anrechenbarkeit von Steuervorteilen beschlossen, die ab 2019 wirksam werden. "Steuerschlupflöcher in Übersee oder auf den Kaimaninseln allerdings können die Europäer damit nicht schließen", sagt Wolf. Da müssten schon die Staats- und Regierungschefs etwa beim im Juli anstehenden G-20-Gipfel in Hamburg Zeichen setzen. Dass es mitunter auch schneller gehen kann als gedacht, zeigen die seit 2013 laufenden Bemühungen um ein Freihandelsabkommen zwischen Japan und der EU. Beobachter halten plötzlich eine Einigung für möglich, nachdem der US-Präsident sowohl die Transpazifische Partnerschaft TPP als auch das transatlantische Abkommen TTIP abgelehnt hat. Vor allem die Beseitigung von unterschiedlichen Vorgaben für technische Standards, sogenannter nicht tarifärer Hemmnisse, könnte zu einer Belebung des Handels führen.

Mittelfristig dürfte auch die Digitalisierung der Wirtschaft für Veränderungen im globalen Warenaustausch sorgen. Sie bringt nicht nur eine zunehmende Vernetzung von Mensch und Maschine sowie von Herstellern und Kunden mit sich, sondern macht auch die Logistik entlang weltweiter Lieferketten effizienter. "Sämtliche für ein Handelsgeschäft relevanten Daten können in der digitalisierten Wirtschaft elektronisch gesammelt und allen Teilnehmern gleichzeitig zur Verfügung gestellt werden", sagt Reinhard Geissbauer, Industrie-4.0-Experte bei der Beratungsgesellschaft PWC (Pricewaterhouse Coopers). Will etwa ein Hersteller kurzfristig größere Mengen eines erfolgreichen Produkts produzieren, kann der vernetzte Zulieferer so unverzüglich das benötigte Material bereitstellen und der Logistiker die Transportkapazitäten reservieren. Dank neuer Technologien erkennen Maschinen etwa selbständig den Bedarf an zu verarbeitenden Komponenten und speisen sie automatisch in die Betriebssysteme ein. Am Container angebrachte Sensorikchips liefern zudem wichtige Informationen zu den Transporten. Wurde die Kühlung eingehalten? Ist ein Gut beschädigt? "Die Digitalisierung macht den internationalen Warenverkehr sicherer, transparenter und effizienter", sagt Geissbauer.

Das Werkzeuge und Arbeitsschritte sparende 3-D-Druckverfahren ermöglicht heute auch die kostengünstige Produktion wie etwa von Spezialmaschinen. Die Fertigung lohnt sich damit zunehmend wieder in Deutschland und muss weniger auf Billiglohnländer ausweichen. Viele deutsche Firmen wie Bosch und SAP sind zudem Anbieter zukunftsweisender Industrie 4.0-Lösungen. "Der Trend zur Digitalisierung wird Deutschlands Stellung als Exporteur eher noch stärken", sagt Geissbauer.

Auch die Herstellung von Konsumgütern in Deutschland könnte eine Renaissance erleben. Aktuelle Mode etwa muss nicht mehr zentral in Fabriken in Asien gefertigt werden, sondern ist dank der Digitalisierung zunehmend auch bei Fertigung in kleineren Einheiten in Europa wieder rentabel. Die automatisierten Prozesse der Industrie 4.0 werden es der Textilbranche erleichtern, auch zu den in Europa üblichen Löhnen wettbewerbsfähig zu fertigen. Das Modehaus Marc Cain in Bodelshausen etwa nutzt das 3-D-Strickverfahren, um Kleidungsstücke ohne Nähte in nur einem Arbeitsgang zu produzieren. Digitale Dateien werden dabei mit Hilfe von 3-D-Druckern Schicht für Schicht zu Röcken oder Blusen umgewandelt. Solche Verfahren eröffnen nicht nur flexiblere Möglichkeiten beim Entwerfen oder der Umsetzung neuer Designs. Es ist auch eine Möglichkeit, um kleinere Mengen etwa für die Modenschau zu produzieren.

China sieht seine Wirtschaft nicht mehr als verlängerte Werkbank der Welt

Der Einsatz intelligenter Robotertechnologie in automatisierten Prozessen ermöglicht es dabei, schneller als je zuvor zu fertigen. Der Sportartikelhersteller Adidas, hat etwa im vergangenen Jahr in Ansbach seine erste Speedfactory errichtet. Noch in diesem Jahr soll in den USA nahe Atlanta eine zweite Speedfactory die Produktion aufnehmen. Hält der Trend in der Branche an, könnte er zu einer Rückverlagerung von Produktionsstandorten in den Schwellenländern hin zu den Industriestaaten führen. "Den Unternehmen bietet sich damit die Chance, wieder näher bei ihren zahlungskräftigen Kunden in Europa und den USA zu produzieren", erläutert Professor Martin Gornig vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin. Die Branche könne damit schneller auf Kundenwünsche reagieren. Darüberhinaus entfallen auch noch Transport- und Lagerkosten. "Das bedeutet andererseits, dass der internationale Handel in solchen Teilbereichen an Bedeutung verliert", sagt der Ökonom.

Weil in der Industrie 4.0 die Aufgaben an vielen Schnittstellen immer häufiger von Maschinen erledigt werden, verschiebt sich gleichzeitig die Bedeutung der Beschäftigten im Betrieb. Einerseits entsteht neuer Bedarf an qualifizierten Arbeitskräften. Andererseits gehen einfachere Arbeitsplätze verloren. Damit verliert auch der Standortvorteil niedriger Lohnkosten an Bedeutung. Die Planer in China sehen ihre Wirtschaft deshalb nicht mehr als verlängerte Werkbank der Welt, sondern streben eine höhere Qualifikation ihrer Bevölkerung und ein größeres Angebot international wettbewerbsfähiger Produkte an. Das könnte zu einer Belebung des globalen Handels unter neuen Vorzeichen führen. "China gibt sich neuerdings als Befürworter des Freihandels und würde gerne in die Lücke stoßen, die sich durch die neue US-Politik aufgetan hat", sagt Wissenschaftler Wolf vom HWWI.

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Quelle:
SZ vom 14.06.2017
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