Indiens Wirtschaft:Die Hürden sind hoch

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Erstmals seit langem ist Indien weniger stark gewachsen als China. Das enttäuscht das Land. Es will drittgrößte Volkswirtschaft sein.

Von Tobias Matern, München

Auf diese Zahl schauen sie immer ganz gebannt, eine Frage ist dabei besonders wichtig: Ist sie größer als in China? Indien ist auf Wachstum angewiesen, und so ist die quartalsweise Veröffentlichung des Bruttoinlandsprodukts eigentlich immer eine Geschichte, die nicht nur die Zeitungen des Landes auf der Seite eins beschäftigt. Das erste Quartal 2017 war demnach eine Enttäuschung, erstmals seit langer Zeit lag Delhi wieder hinter Peking - mit 6,1 Prozent Zuwachs im Vergleich zum Vorjahr. Wer Werte von 7,5 und acht Prozent gewohnt ist, versieht diese Quartalszahl tatsächlich mit einem enttäuschten "nur".

Indien wird Prognosen von Wissenschaftlern zufolge in etwa fünf Jahren China als einwohnermäßig größtes Land der Welt überflügeln. Und Ökonomen erwarten, dass das südasiatische Land Mitte des Jahrhunderts hinter China und den USA die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt sein wird. Auf diesem Weg hat die indische Regierung allerdings noch große Probleme zu lösen: Wie lassen sich mehr als 1,3 Milliarden Menschen ernähren, wie lässt sich eine nach wie vor an vielen Stellen veraltete Infrastruktur sanieren oder so modernisieren, dass sie kein Wachstumshindernis mehr darstellt? Und vor allem: Wie löst die Regierung für ein so großes Volk die soziale Frage, schafft nicht nur eine stetig wachsende Mittelschicht, die ausgiebig konsumiert, sondern ermöglicht auch Hunderten Millionen Indern, die nach wie vor ein Leben unter der Armutsgrenze führen müssen, ein menschenwürdiges Leben? Wie die Oxford-Universität in einer aktuellen Studie schreibt, leben in Indien trotz Jahren des wirtschaftlichen Aufschwungs etwa die Hälfte der Kinder und Jugendlichen in akuter Armut.

Zwar hat Indien in den vergangenen Jahren zahlreiche Reformschritte unternommen, ist etwa die zweistellige Inflationsrate auf 2,2 Prozent gesunken. Wirtschaftsanalysten schreiben dies Premierminister Narendra Modi zu. Der Hindu-Nationalist, der vor seiner Zeit als Regierungschef Indiens in seinem Bundesstaat eine gegen Minderheiten gerichtete Politik zugelassen hatte und der im Ausland zunächst mit einigem Argwohn betrachtet worden war, genießt bei seinen Bürgern nach wie vor eine hohe Zustimmung. Bei Regionalwahlen schnitt seine Partei jüngst stark ab. Es ist, als erneuere Indien den Reformauftrag, den das Land dem Premier 2014 bei den Wahl erteilt hatte.

Aber auch Modis Bemühungen, die verkrustete Wirtschaft moderner zu gestalten, funktionieren nicht immer auf Anhieb: Modi setzte eine brachiale Bargeldreform durch, die viel Probleme verursachte. Die Notenbank zeigt sich dieser Tage alarmiert, weil die indische Wirtschaft von einer Reihe fauler Kredite belastet wird. Die Angelegenheit müsse für Modi zu einer Top-Priorität werden, forderte ein Berater des Finanzministeriums in Delhi. Umgerechnet bis zu 200 Milliarden Euro seien auch bei Staatsbanken gefährdet.

Modi hat ein schweres Erbe angetreten. Die Vorgängerregierung von Manmohan Singh hatte zahlreiche Strukturreformen liegen gelassen. Trotzdem bleibt mit Singhs Namen die größte wirtschaftspolitische Reform Indiens in den vergangenen Jahrzehnten verbunden: Die ehemalige britische Kolonie hatte sich seit der Unabhängigkeit 1947 mit einem moderaten wirtschaftlichen Aufschwung zufrieden gegeben. Diese "Hindu-Wachstumsrate" von maximal drei Prozent schaffte Singh als Finanzminister im Jahr 1991 ab - er öffnete das Land für ausländische Investitionen und verschrieb Indien einen radikalen Reformkurs, der das zügige Wachstum des Landes ermöglichte.

Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hatte Ende Mai bei einem Besuch Modis in Berlin herausgestellt, wie wichtig Indien für Deutschland und Europa sei. Sie sehe in Delhi einen Partner, "an dessen guter Entwicklung wir umfassend interessiert sind", betonte die Kanzlerin. Deutsche Mittelständler, die in Indien investieren, beklagen aber nach wie vor hohe bürokratische Hürden.

© SZ vom 21.06.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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