Indien:Chaos am Kashmiri Gate

Gebrauchte Autoteile in der Nähe von Jama Masjid in Indien

Reifen vom Fachhandel? Von wegen. Ein Markt für gebrauchte Autoteile in der Nähe von Jama Masjid.

(Foto: Harish Tyagi/dpa)

Seit vier Monaten gilt in Indien eine neue, landesweite Mehrwertsteuer. Ziel war es, das Gestrüpp an Abgaben zu beseitigen und den Handel zu erleichtern. Doch das Gegenteil könnte passieren - der Unmut wächst.

Von Arne Perras, Delhi

Das Labyrinthische der indischen Wirtschaft lässt sich auf vielen Wegen erkunden. Rund um das Kashmiri Gate in der Altstadt von Delhi reicht dem Fremden schon ein Streifzug von wenigen Minuten, um sich in den Gassen heillos zu verlaufen. Da wirkt es tröstlich, dass sich auch einheimische Händler derzeit ein wenig verloren fühlen. Was natürlich nicht am Wirrwarr der Straßen liegt, denn damit kennen sie sich aus. Den Geschäftsleuten am Kashmiri Gate macht etwas ganz anderes zu schaffen: Sie haben es mit einem Alien zu tun, das ihnen die Finanzbehörden untergejubelt haben. Der geheimnisvolle Fremdling hat drei Buchstaben und heißt "GST".

Manche halten GST für eine ernsthafte Bedrohung ihrer geschäftlichen Existenz. Doch die Regierung findet das abwegig und sagt: GST ist die Zukunft. Ein Leben ohne GST? Eigentlich gar nicht mehr vorstellbar, wenn Indien durchstarten will als Motor der Weltwirtschaft.

Händler Sandeep Kumar will den hochfliegenden Plänen gar nicht widersprechen, der 45-jährige Unternehmer hat Hoffnung, dass die Regierung tatsächlich den richtigen Kurs eingeschlagen hat. Nur was er erlebt mit dieser neuen landesweiten Mehrwertsteuer, der viel gepriesenen "Goods and Services Tax" - kurz GST - macht ihn bisher gar nicht glücklich. Und mit seinen Sorgen ist er nicht alleine.

Wer in Delhi ein neues Teil für sein Auto braucht, findet es am Kaschmiri Gate. Tausende Händler haben sich dort eine mehr oder weniger bescheidene Existenz aufgebaut. Spiegel, Verkleidungen, Sicherheitsgurte, Fußmatten, Polster, Fenstergummis, Rückleuchten, Blinklichter, Stoßdämpfer. Am Kashmiri Gate gibt es nichts, was es nicht gibt, ein größeres Ersatzteillager ist kaum vorstellbar. Das Viertel galt bisher als quirliger Biotop des sogenannten informellen Sektors. Manche nennen es auch die Parallelökonomie. Wer hier sein Geld verdient, zahlte bislang wenig oder auch gar keine Steuern. Das alte Regelwerk war ebenso löchrig wie unüberschaubar, nun wird es ersetzt durch GST.

"Was machen Sie, wenn auf der digitalen Plattform der Behörden nichts mehr geht?"

Der legendäre informelle Sektor Indiens bildet seit jeher das eigentliche Rückgrat der Ökonomie, er versorgt neun von zehn Indern mit Arbeit. In ihm verdienen Bauern und Tagelöhner ihr Geld, Laufburschen und Kioskbesitzer, Kleinproduzenten und fliegende Händler. Und auch jene Kaufleute am Kashmiri Gate. Nach einer Schätzung von Credit Suisse macht die informelle Wirtschaft etwa die Hälfte des gesamten indischen Bruttosozialprodukts aus. Nun aber ist es das ehrgeizige Ziel der Regierung, den informellen Sektor zumindest in großen Teilen in den formellen Sektor einzugliedern. Dabei soll die große Steuerreform helfen, mit der nun auch Sandeep Kumar Bekanntschaft gemacht hat. Der Händler sitzt an einer Theke vor seinem Lager und gibt seinen ungelernten Arbeitern Anweisungen. Sie sollen Sonnenblenden heranschaffen für einen Kunden. "Immerhin, es gibt noch Aufträge", sagt Kumar. Aber alles laufe stockend, er glaubt, GST sei daran schuld.

Am 1. Juli hat Indien die landesweite Mehrwertsteuer eingeführt. Die Reform gilt als größter steuerpolitischer Umbruch seit der Unabhängigkeit 1947. Und sie treibt nun schon seit Wochen den Puls im informellen Sektor in die Höhe, weil sie dort mit der Umsetzung kämpfen. Viele kommen mit den neuen Formalitäten nicht klar, es gibt auch technische Probleme bei der Digitalisierung der Abläufe. "Was machen Sie als Geschäftsmann, wenn auf der digitalen Plattform der Behörden nichts mehr geht? Wenn sie Steuerpapiere nicht hochladen können?" Das System streike immer wieder, klagt Kumar. "Es ist überlastet angesichts der Datenflut, aber wir haben die Pflicht, Unterlagen rechtzeitig einzureichen, dreimal im Monat." Wie sie das hinbekommen sollen? Kumar hat keine Ahnung.

Der 45-Jährige macht keineswegs den Eindruck, als sei er ein notorischer Nörgler. Eigentlich soll die Reform ja alles vereinfachen und Kumar findet das gut. Aber vorerst spürt er davon nichts: "Mein Buchhalter verlangt doppelt so viel für seine Arbeit wie früher", erzählt er. "Und ohne professionelle Hilfe schafft es keiner." Nicht alle aber können sich das leisten.

Und dann ist da natürlich auch ein Steuersatz, den viele für astronomisch halten: 28 Prozent auf Autoteile aller Art. "Das haben wir uns so nicht vorgestellt", sagt Kumar. Die Kundschaft sei verunsichert und äußerst zögerlich. "Das muss man erst mal wegstecken können."

"Eine Steuer, ein Markt, eine Nation." Finanzminister Arun Jaitley hatte diese Formel wie einen magischen Dreiklang zur Belebung und Modernisierung der indischen Wirtschaft beschworen. Am Ende aber kamen vier verschiedene Steuersätze für die GST heraus: fünf, 12, 18 und 28 Prozent. Zu viele Stufen, klagen Kritiker.

Der Druck auf die Regierung steigt. Ende des Jahres stehen wichtige Regionalwahlen an

Kumar sagt, sein Umsatz sei um 20 bis 25 Prozent eingebrochen, seitdem die GST eingeführt wurde. Ein anderer Kaufmann, Umesh Shet, berichtet von ähnlichen Problemen, er spricht bedächtig und niemals laut, als Generalsekretär des Händlerverbands am Kashmiri Gate weiß er um die Nöte seiner Mitglieder. Und er ist alarmiert. Weder Kumar noch Shet sind grundsätzliche Gegner einer Reform. "Wir akzeptieren den Transfer in den formellen Sektor." Sie können nachvollziehen, dass es helfen könnte, Korruption zu bekämpfen, die Ausbeutung von Arbeitern einzudämmen, neues Wachstum zu erzeugen. Leuchtet alles ein. Der Finanzminister rechnet nach der Umstellungsphase sogar mit einem Wachstumsschub von ein bis zwei Prozentpunkten. Aber irgendwann bei den Erkundungen am Kashmiri Gate fällt dieser Satz eines verzweifelten Händlers: "Der Patient muss die Operation auch überleben."

In indischen Medien ist schon die Rede davon, dass die Reform Händler erst recht in die Schattenwirtschaft drängen könnte. Außerdem fragen sich viele, was das alles für die Jobs bedeutet, immerhin saugt der informelle Sektor eine riesige Zahl ungelernter Arbeitskräfte auf, wie sie auch der Händler Kumar beschäftigt. "Sie sehen meine fünf Jungs da draußen? Noch kann ich sie halten, aber wenn sich die Lage nicht verbessert, muss ich meine Kosten reduzieren."

Eine Million junge Leute drängen in Indien auf den Arbeitsmarkt - pro Monat. Sie zu beschäftigen, ist die schwierigste Aufgabe der Regierung. Nur wer sie löst, darf erwarten, dass der bald bevölkerungsreichste Staat der Erde ökonomisch aufblüht und auch stabil bleibt. Die meisten Experten glauben, dass dafür stetiges hohes Wachstum nötig sein wird, was nicht passt zu den Erfahrungen der jüngsten Zeit: Sechs Quartale in Folge ist das Wachstum gesunken, auf zuletzt 5,7 Prozent. Aus europäischer Perspektive würde man wohl sagen: Das ist immer noch prächtig. Doch gerade die Entwicklung im informellen Sektor Indiens geht nur unzureichend in die Berechnungen ein, so dass manche Ökonomen glauben, das tatsächliche Wachstum könnte deutlich niedriger liegen.

Über diese Probleme redet nun auch Verbandschef Shet: "Die Erwartung war, dass die landesweite Steuer die Preise nach unten bringt, aber leider ist das nicht geschehen. Zumindest noch nicht. Und 28 Prozent ist einfach zu hoch für uns." Der Kaufmann sagt, dass er in all den Jahren noch nie eine so schwierige Zeit erlebt habe wie jetzt. Auch wehrt er sich dagegen, den informellen Sektor pauschal als Schwarzgeldarena schlechtzureden. "Auch die parallele Ökonomie trägt zum Wachstum und zum Steueraufkommen bei, indem sie den Konsum ankurbelt." Doch schon die rabiate Bargeldreform im vergangenen Jahr habe den informellen Sektor hart getroffen, nun komme die GST als zweiter Schlag hinzu. "Der Übergang in den formellen Sektor müsste glatt verlaufen", sagt Shet. "Aber so ist es nicht."

So steigt der Druck auf die Regierung. Ende des Jahres stehen wichtige Regionalwahlen an. Premierminister Narendra Modi muss befürchten, dass das Reizthema GST die große Popularität seiner Partei BJP schmälert. Die Regierung sei zu Änderungen bereit, sagte er diese Woche. Aber nie werde er die "Megareformbewegung zurückdrehen". Modi ist es gelungen, trotz umstrittener Bargeldreform Wahlen in Uttar Pradesh zu gewinnen. Die Mehrheit schien ihm zuletzt noch immer zu vertrauen, sie folgen ihm als Modernisierer, auch wenn es schmerzt. Der Premier setzt darauf, dass ihn auch der Streit um die Steuer nicht ausbremsen wird. Nach den Wahlen im Dezember werden es alle wissen.

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