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Börse:So mächtig sind die Anbieter von Börsenindizes

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Von Victor Gojdka, München

Es war nachts um kurz nach zwei Uhr deutscher Zeit, als der Kurs der wohl "weltbesten Aktie" in die Tiefe stürzte. Die Händler an der Hongkonger Börse konnten dabei zusehen, wie die Aktien des chinesischen Marmorfertigers Artgo nach Handelsbeginn um 98 Prozent abrauschten. Binnen Minuten waren die Papiere nahezu wertlos geworden. Manche witzelten gar, das Unternehmen sei "beerdigt" worden. Mit Beerdigungen sollte sich ein Marmor-Unternehmen ja auskennen.

Die noch vor Monaten nahezu unbekannte Firma war in den vergangenen Wochen zum Aktienfaszinosum avanciert: Seit Jahresbeginn nämlich war der Kurs von Artgo um knapp 3800 Prozent nach oben geschossen, kaum ein anderes Unternehmen kam auf ein solches Kursplus. Doch der Fall Artgo ist nicht einfach nur ein weiterer Fall kurioser Kapriolen an der manchmal irrationalen Hongkonger Börse. Er legt gleichzeitig eine tiefere Macht am Aktienmarkt offen, über die selbst Finanzexperten kaum Bescheid wissen: die stille Macht der Indexanbieter.

Der Kurssturz hatte sich angekündigt

Denn der Kurssturz von Artgo kam nicht aus heiterem Himmel, für Eingeweihte kam er mit Ansage. Am Nachmittag vor der Höllennacht für Artgo hatte schließlich ein Unternehmen namens MSCI eine kurze Mitteilung herausgegeben. Der Inhalt: MSCI, der Anbieter zahlreicher Börsenindizes, werde die Marmor-Multis von Artgo nicht in seine Aktienindizes aufnehmen. "Standardmitteilung", stand über dem Schriftstück. Doch der Inhalt hatte Sprengkraft.

Denn MSCI setzt Aktienindizes zusammen, deren Lauf riesige Anlagegesellschaften und Privatanleger eins zu eins und blindlings folgen. Statt bewusst mit einzelnen Aktien zu handeln, folgen immer mehr Anleger inzwischen ganzen Indizes wie dem deutschen Leitindex Dax oder eben den Indizes von MSCI. Das Unternehmen mit dem kryptischen Kürzel ist so inzwischen eines der wichtigsten Unternehmen in der Finanzbranche geworden, wie ein Straßenschild weist es indirekt Milliarden an Investorengeldern den Weg.

Dieses Wissen wiederum dürfte die Artgo-Investoren aufgeschreckt haben. Denn noch vor wenigen Wochen hatte MSCI angekündigt, den Marmorhersteller zumindest in seinen China-Aktienindex aufnehmen zu wollen. Manche Artgo-Anleger hatten wohl damit gerechnet, dass damit bald viel Investorengeld in die Aktie fließen würde. Dass diese Hoffnungen enttäuscht wurden, dürfte ein Grund für den Absturz sein. Zuvor hatte bereits der kritische Investor David Webb auf Unregelmäßigkeiten bei Artgo hingewiesen.

Für Anleger bleibt vor allem eine Schlussfolgerung: Genau wie täuschend echter Marmor sind auch Marmor-Firmen nicht immer so viel wert, wie es scheint.

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Quelle:
SZ vom 23.11.2019
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