Impressionen aus Rüsselsheim:"Ohne Opel gehen hier die Lichter aus"

Erst kam die Fabrik, dann kamen die Menschen, jetzt geht ein Teil der Fabrik, und die Menschen bleiben verstört zurück - von einer Stadt ohne Mitte.

Von Marcus Jauer

Rüsselsheim, im Oktober - Wenn die Frühschicht kommt, ist es noch dunkel. Von der Straße, die aus der Stadt hinaus und am Werk entlangführt, biegen Autos auf den Parkplatz ein. Ein Bus hält.

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(Foto: Foto: AP)

Männer steigen aus und laufen auf das Werkstor zu. Sie begrüßen die Pförtner, passieren das Drehkreuz und verschwinden zwischen den Hallen, aus deren Fenstern weißes Licht dringt. In zwei Stunden geht die Sonne auf, aber sie ist es nicht, die den Takt der Stadt bestimmt.

Es sind Frühschicht und Mittelschicht, Spätschicht und Tagschicht. Am Anfang dieser Woche, die für Rüsselsheim so wichtig war, kommt es einem noch vor, als sei das Werk ein riesiges Herz, das täglich frische Arbeiter durch seine Tore ansaugt und sie Stunden später müde wieder hinauspumpt auf Parkplätze, Bahnsteige und vor Bushäuschen, wo der Kreislauf der Stadt sie dann aufnimmt und über breite Straßen zu ihren Wohnungen bringt, in denen sie aus ruhen, bis das Herz sie wieder braucht.

Am Ende der Woche aber fragt man sich, ob es überhaupt stimmt, dieses Bild vom Herzen. Wie soll denn einer ohne leben ?

Am Montag schreiben die Zeitungen über die Krise bei General Motors, dem größten Autobauer der Welt. Die Manager aus Detroit hätten bei ihren Marken Saab und Opel schwere Fehler gemacht. Durch Sparaktionen habe die Qualität gelitten, nun sei das Image beschädigt.

Seit Jahren macht die Firma in Europa Verlust, mehr als eine Million Euro jeden Tag. Darum wolle sie 12000 Stellen streichen, schreiben die Zeitungen. Vielleicht werde sogar das Werk in Rüsselsheim geschlossen.

Gernot Hauf hat Tagschicht. Er fährt halb acht ins Werk, passiert das Drehkreuz, zieht den grauen Arbeitsanzug an und bindet ein Band um seinen Gürtel, damit er den Lack nicht zerkratzt.

Er ist 43 Jahre alt, ein großer, kräftiger Mann, in dessen Stimme Gemütlichkeit liegt. Er kam vor 20 Jahren zu Opel und blieb. Er war nie woanders.

"Das war, als hättest du eine Stelle als Beamter gekriegt", sagt er, "so sicher warst du beim Opel und jetzt ist auf einmal die Bedrohung so nah".

Als Gernot Hauf im Werk anfing, stand er am Band und schweißte den Kofferraum und die Seitenteile an die Karosse.

Sein Bruder, der kurz nach ihm ins Werk gekommen war, stand am Band neben ihm. Er schweißte den Senator und den Monza. Gernot Hauf den Rekord und den Ascona.

"Ohne Opel gehen hier die Lichter aus"

Er ist ja schon Opel gefahren, da arbeitete er noch gar nicht dort, die Autos gefielen ihm einfach, ihr Gesicht, die Form. Und jetzt, wo er sie selbst zusammenbaute, war er stolz darauf.

In der Halle gab es damals schon Roboter, die bei der Arbeit halfen. Und in der Halle, die danach gebaut wurde, halfen sie noch ein wenig mehr. Und in der Halle, in der Gernot Hauf jetzt arbeitet, können die Roboter fast alles allein, nur einander reparieren, das noch nicht, und darum fährt er in einem kleinen Elektro wagen nun Ersatzteile für Roboter aus.

Dieser Teil des Werkes ging erst vor zwei Jahren in Betrieb. Er hat 750 Millionen Euro gekostet und ist fast vollkommen automatisiert. Aber er ist fast nur zur Hälfte ausgelastet.

Gernot Hauf sagt, er verstehe das nicht. Er hat das Gefühl, sie hätten nie bessere Autos gebaut. In den Fachzeitschriften werden sie gelobt. Trotzdem verkaufen sie schlecht. Aber muss man deshalb so ein modernes Werk schließen?

"Manchmal denke ich", sagt er, "die Manager treffen sich alle in einer Kneipe und überlegen. Was machen wir heute mal dicht?" So als sei das deren richtige Arbeit, dieses Dichtmachen.

Am Dienstag steht in der Zeitung, die Lohnkosten des Werkes in Rüsselsheim seien fast doppelt so hoch, wie die des Saab-Werkes im schwedischen Troll hättan. Es gebe Gerüchte, General Motors wolle den neuen Vectra dort bauen lassen. Die Gewerkschaft hat Plakate aufstellen lassen. "Ja zu Opel in Rüsselsheim und Saab in Trollhättan" steht darauf .

Wolfram Heitzenröder möchte das Hauptportal des Werkes zeigen, aber sein Arm ist zu kurz und das Modell zu groß, er reicht nur bis zum Bahnhof "Opelwerk". Darum kniet er sich jetzt vorsichtig auf die Holzplatte und rutscht langsam an den kleinen Hallen vorbei nach vorn.

"Hier hat das angefangen", sagt er.

Wolfram Heitzenröder leitet das Stadtarchiv, vor 25 Jahren kam er hierher, es war seine erste Bewerbung nach dem Studium, dann ist er hier hängengeblieben.

Er steht vor dem hölzernen Modell des Werkes. Dort, wo sich heute das Hauptportal befindet, in der Mitte der Stadt, die damals ein Dorf war, errichtete Adam Opel 1868 seine erste Fabrik.

Er stellte zuerst Nähmaschinen und Fahr räder her, seine Söhne bauten dann Autos . Später hat sich General Motors eingekauft und den Namen des Firmengründers behalten.

Im Stadtmuseum, das neben dem Archiv liegt, gibt es eine Ausstellung, darin hängt eine Postkarte von 1911. Sie zeigt das Hauptportal, vor dem Hunderte Männer stehen. "Gruß aus Rüsselsheim", heißt es auf der Karte. "Opel macht Mittag."

"Das Werk hat immer den Takt vorgegeben", sagt Wolfram Heitzenröder, "und Rüsselsheim musste nachziehen."

"Ohne Opel gehen hier die Lichter aus"

Das Werk wuchs und die Stadt mit ihm. Bis Kriegsende vervierfachte sich die Zahl der Einwohner. Nach dem Krieg vervierfachte sie sich noch einmal. Rüsselsheim war die am schnellsten wachsende Stadt Deutschlands.

Es gibt einen Film im Museum, das ZDF hat ihn 1968 gedreht. Damals entstanden auf den Wiesen rund um die Stadt überall ganze Wohnviertel neu. Man glaubte, die Stadt werde einmal 80000 Einwohner haben können und das Werk werde sie ernähren.

Am Ende des Films heißt es, das Verhältnis zwischen der Stadt und Opel sei das einer Ehe, in der jener den Ton angibt, der das Geld verdient. Rüsselsheim müsse sich emanzipieren, wenn es eine richtige Stadt werden wolle.

Rüsselsheim mochte den Film nicht. Es gab Proteste. Der Oberbürgermeister forderte, der Intendant des ZDF solle sich bei der Stadt entschuldigen. "Aber der Film hatte Recht", sagt Heitzenröder. "Andere Städte sind natürlich gewachsen, wir haben das Teenageralter einfach übersprungen."

Und in welchem ist die Stadt jetzt?

"Im Greisenalter", sagt Wolfram Heitzenröder, "und wenn Opel schließt, dann gehen hier die Lichter aus."

Am Mittwoch steht in den Zeitungen, General Motors wolle bei Opel 7000 Stellen streichen. Wo genau, das werde am Donnerstag mitgeteilt. Das Werk in Rüsselsheim soll offenbar nicht mehr geschlossen werden. Stattdessen das in Bochum. Ist das nun die Rettung?

Es wird Mittag im Werk. Die Tagschicht geht essen, die Frühschicht nach Hause. Manchmal treffen sich einige der Männer noch in der "Opel-Klause", einer Kneipe vor dem Tor, in der es wechselnde Tagesgerichte gibt und ein Bier dazu .

Sie sitzen an den Tischen und überlegen, warum ihre Arbeitsplätze nicht mehr sicher sind. Sie sagen, die Manager hätten auf Kosten der Qualität gespart. Die Presse hätte die Autos runter geschrieben. Der Euro hätte alles verteuert. Den Amerikanern sei Opel egal. Oder sie rächten sich, weil Deutschland nicht mit ihnen in den Irakkrieg zog.

Es scheint alles ein wenig zu stimmen, zu allem kann jeder eine Geschichte erzählen. Aber es ändert nichts. Sie werden es ausbaden müssen.

Eugenia Weimer, die sie hier nur Heidi nennen, steht hinter dem Tresen und hört zu. Sie kennt das schon und wundert sich doch immer wieder, warum die Leute sich nicht wehren, die Arbeit niederlegen und demonstrieren. Sie hat sogar schon versucht, sie anzustacheln.

"Wo ist eure politische Aktivität?", hat sie gefragt. "Ja, bin ich denn die einzige Patriotin hier?"

Aber es war sinnlos. Die Leute rührten sich nicht. Sie zogen nur die Köpfe ein.

"Wie die Schildkröten", sagt Heidi.

Sie stammt aus Kasachstan, sie ist Russlanddeutsche, eine kleine, energische Frau. Als sie 1991 herkam, hatte sie nichts dabei als ihren Mann. Am Anfang haben sie Versicherungen an der Haustür verkauft, sie sind von Stadt zu Stadt gefahren und nachts haben sie im Auto geschlafen, zwei Jahre lang.

"Man muss doch eine lebensaktive Position einnehmen", sagt sie, "oder nicht?"

Am Donnerstag steht in der Zeitung, es sei der Tag der Entscheidung. Durch die Cafés schwirren Zahlen. Schüler demonstrieren . Ein Mädchen hat ein Plakat gemalt. "Was soll ich essen ohne Opel?" In Detroit gibt General Motors das Sparprogramm bekannt. In den nächsten zwei Jahren wird in Deutschland fast jeder dritte Arbeitsplatz bei Opel gestrichen, das sind 10000 Stellen. 4000 in Bochum. 4000 in Rüsselsheim. Der Rest an anderen Standorten.

Stefan Gieltowski gibt eine Pressekonferenz. Er ist Oberbürgermeister von Rüsselsheim, vor vier Jahren kam er ins Amt, er ist in der SPD, aber das hat man damals auf den Wahlplakaten nicht gesehen, da war nur sein Kopf, kein Logo.

Jetzt sitzen zwei dutzend Journalisten vor ihm, einige sind aus Trollhättan gekommen. Alle wollen sie wissen, was die Nachricht für die Stadt bedeutet.

"Wir sind tief betroffen", sagt er.

Er ist am Morgen um neun Uhr angerufen worden, das hatte man ihm versprochen. Er hat gewusst, dass das Werk nicht geschlossen wird. Dann wäre jeder Siebente in seiner Stadt arbeitslos geworden. Aber diese 4000 Stellen sind nun doch mehr, als er erwartet hatte.

"Wir müssen versuchen, uns langfristig von der wirtschaftlichen Entwicklung bei Opel abzulösen", sagt er, "ohne uns von Opel zu verabschieden."

Es ist ein Widerspruch, die Stadt lebt schon lange mit ihm. Schon seit Ende der Siebzigerjahre. Damals arbeiteten 40000 Leute im Werk. Leute, die Wohnungen brauchten und Kindergärten, Schulen, Sporthallen, Freibäder, ein Theater, eine Bücherei. All das hat Rüsselsheim gebaut. Solange Opel Steuern zahlte, war Geld da, und lange sah es nicht so aus, als würde sich daran etwas ändern.

Einmal fragte Mitsubishi, ob es in Rüsselsheim bauen könne, aber die Stadt lehnte ab. Man hatte ja schon ein Werk.

"Opel war der Ernährer und die Perspektive der Stadt", sagt Gieltowski. Es gibt eine Tafel im Museum, auf der sind Kurven aufgezeichnet. Eine zeigt die Gewinne von Opel, die andere die Zahl der Beschäftigten im Werk. Bis Ende der Siebzigerjahre verlaufen sie parallel.

Danach nimmt die Zahl der Beschäftigten immer weiter ab, egal, ob Opel Gewinn macht oder nicht. In jeder neuen Halle, die Opel baute, arbeiteten weniger Menschen.

Heute sind es nur noch halb so viele wie zur besten Zeit, und die wenigsten von ihnen arbeiten in der Produktion, die meisten in der Verwaltung und der Entwicklung. Das Werk beginnt sich langsam aus der Ehe mit der Stadt zu verabschieden. Aber die Stadt wollte das lange nicht wahrhaben.

Seit Gieltowski im Amt ist, fragt er sich, wie Rüsselsheim seine Infrastruktur mit weniger Geld unterhalten kann. Opel macht seit Jahren keinen Gewinn und zahlt keine Gewerbesteuern. Die Stadt ist verschuldet. Sie hat ein Freibad geschlossen, aber das wird nicht reichen.

Gieltowski hat ein Sparpaket geschnürt. Am Abend wird er es den Stadtverordneten vorlegen. Früher haben viele von ihnen im Werk gearbeitet, heute noch zwei.

"Opel ist nach wie vor wichtig", sagt Stefan Gieltowski, "aber es gibt auch noch etwas anderes auf der Welt."

Nach der Pressekonferenz erkundigt er sich, ob er zu nüchtern über Rüsselsheim gesprochen habe. Das wolle er nicht. Es gebe auch heimelige Ecken. Das vergesse er manchmal. Vor Jahren habe man entdeckt, dass der Riesling, der Wein des Rheingaus, von hier stammt. "Aber das glaubt uns ja kein Mensch", sagt er.

Am Freitag schreiben die Zeitungen, die Arbeiter in Bochum hätten sofort das Band angehalten, als sie hörten, dass 4000 von ihnen ihre Stelle verlieren werden. Seitdem sind sie im Ausstand.

Gernot Hauf steht auf dem Marktplatz eines Nachbarorts von Rüsselsheim. Er muss heute nicht ins Werk, es ist Korridor-Tag, weil sie so wenig Autos verkaufen. Er hat ein gelbes Gewerkschafts-Shirt über den Pullover gezogen und sammelt Unterschriften gegen den Stellen-abbau.

Es läuft ganz gut.

Am Anfang der Woche hatte er gesagt, es sei alles so unklar, die Zahlen seien noch nicht raus und vielleicht habe der, der sich wehrt, bevor die Zahlen raus sind, schlechtere Karten.

"Ich würde ja protestieren", hatte er gesagt, "wenn ich wüsste wogegen." Jetzt sind die Zahlen raus, aber Gernot Hauf sagt, es sei noch unklar, wie sie sich auf die einzelnen Abteilungen des Werkes verteilen. Die Verhandlungen würden gerade erst beginnen, da könne man noch nicht protestieren.

"Wir dürfen unser Pulver nicht zu früh verschießen", sagt Gernot Hauf. Er ist Vertrauensmann, er war in der Tagschicht, als sie gestern im Radio die Nachricht brachten. Seine Frau hat ihn gleich angerufen, aber er konnte ihr auch nicht sagen, ob er seinen Job behält. Einige Kollegen hatten Tränen in den Augen, einige wollten streiken. Aber Gernot Hauf und die Betriebsräte haben sie überredet, das nicht zu tun.

Rüsselsheim ist nicht Bochum. Bochum baut den Astra, der verkauft sich gut, da ist es ein Druckmittel, wenn die Arbeiter das Band anhalten. Aber Rüsselsheim ist nicht ausgelastet. Hier würden die Arbeiter dem Werk womöglich einen Gefallen tun, wenn sie streiken.

"Wir müssen in Ruhe verhandeln", sagt Gernot Hauf. Wenn es da nicht weiterginge, könnten sie das Band immer noch anhalten . "Wir können jederzeit mobilisieren ", sagt Gernot Hauf. Die Frage ist eben nur, ob das noch nötig sein wird. Das werden sie in den nächsten Wochen herausfinden. Bis dahin geht die Arbeit in Rüsselsheim weiter.

Als die Spätschicht kommt, ist es schon wieder dunkel. Autos biegen auf den Parkplatz ein. Männer begrüßen die Pförtner, passieren das Drehkreuz und verschwinden hinter dem Tor im Licht der Straßenlampen.

Nein, wahrscheinlich kann keiner ohne Herz leben. Aber ohne jemanden, der sich über die Jahre langsam aus einer Ehe verabschiedet hat, das schon.

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