Impfstoff:Europa muss endlich aufholen

Coronavirus - Impfstoff

Im Vergleich zu den USA hat die EU viel weniger Geld für Impfstoffe bereitgestellt.

(Foto: Frank Rumpenhorst/dpa)

Warum geht das Impfen nicht schneller? Dieses Problem hat sechs Gründe - aus denen man für die Zukunft lernen kann.

Gastbeitrag von Guntram Wolff

Eine möglichst rasche Impfkampagne gegen Covid-19, insbesondere für besonders gefährdete Gruppen der Bevölkerung, ist von entscheidender Bedeutung, um Leben zu retten und eine Überlastung des ohnehin schon strapazierten Gesundheitswesens zu verhindern, vom wirtschaftlichen Schaden weiterer Lockdowns ganz zu schweigen. Doch trotz laufender Impfkampagnen ist ein baldiger, schneller Anstieg der Neuinfektionen wahrscheinlich: Die hochansteckende britische Mutante des Virus verbreitet sich.

Dieses Problem wird für die EU dadurch verschärft, dass ihr Impfprogramm schon jetzt hinter dem von Israel, Großbritannien und den Vereinigten Staaten zurückliegt. Das beste EU-Land, Dänemark, hat lediglich 4,3 Personen pro 100 Einwohner geimpft, verglichen mit 53,8 in Israel und 13,1 in Großbritannien. Deutschland und Frankreich liegen sogar noch weiter zurück. Noch besorgniserregender ist, dass es keine Anzeichen dafür gibt, dass die Impfrate in der EU steigt. Die Europäische Kommission und die europäischen Staats- und Regierungschefs haben die Notwendigkeit zum schnellen Handeln erkannt. Die Beschleunigung des Impfprogramms hat nun oberste Priorität.

Impfstoff: Guntram Wolff ist Direktor der Brüsseler Denkfabrik Bruegel. Diese finanziert sich über Beiträge von Staaten, Unternehmen und Institutionen.

Guntram Wolff ist Direktor der Brüsseler Denkfabrik Bruegel. Diese finanziert sich über Beiträge von Staaten, Unternehmen und Institutionen.

(Foto: oH)

Aber warum hinkt die EU so hinterher? Das zentrale Problem sind nicht so sehr die organisatorischen Aspekte, sondern der Mangel an Impfstoffen. Sogar Dänemark musste sein Impfprogramm aufgrund von Lieferengpässen deutlich verlangsamen. Viele Länder melden inzwischen voll funktionsfähige Impfzentren, aber nicht genügend Impfstoff. Wie immer bei solch komplexen Themen gibt es keine simple Antwort auf die Frage, warum das so ist.

Erstens besteht ein Teil der Erklärung darin, dass die EU zu spät zu wenig Impfstoff bestellt hat. Selbst als der Biontech/Pfizer-Impfstoff zum Spitzenreiter unter den Kandidaten erklärt wurde und seine Wirksamkeit belegt war, wartete die EU zu lange mit der Bestellung. Darüber hinaus zögerten viele Mitgliedstaaten aufgrund der neuartigen Entwicklungsmethode des Impfstoffes zusätzliche Impfdosen zu kaufen, und die Europäische Kommission drängte nicht energisch genug auf weitere Bestellungen.

Ein zweiter Grund ist die unzureichende Finanzierung durch die EU. Die EU-Impfstoffstrategie des vorigen Jahres sah 2,7 Milliarden Euro für Vorabkaufverträge, Forschung und Kapazitäten vor. Dieser Betrag wurde im September um 1,09 Milliarden Euro erhöht. Aber im Vergleich zu den 18 Milliarden Dollar, die die USA im Rahmen ihrer Operation Warp Speed bereitstellten, ist dieser Betrag sehr gering. Niedrige EU-Einkaufspreise pro Impfdosis könnten die Lieferungen zusätzlich verlangsamt haben.

Drittens bestand die EU darauf, dass die Haftung für den Impfstoff bei den Pharmafirmen verbleibt und lehnte deshalb eine vorzeitige Notfallzulassung ab. Viele EU-Länder haben wegen dieser Haftungsfrage eine schnellere Zulassung weder gewollt noch gefordert. Über das Für und Wider lässt sich streiten, aber die Risiko-Aversion vieler EU-Länder ist Fakt.

Viertens gibt es jetzt eine Debatte darüber, ob einige Pharmafirmen gegen die Vertragsbedingungen mit der EU verstoßen haben. Astra Zeneca wird von der Europäischen Kommission unter Druck gesetzt, mehr Impfstoff zu liefern. Die EU hat die Entwicklung und Produktion des Impfstoffs vorfinanziert und will nun genau wissen, welche Dosen wo produziert wurden. Die EU droht nun mit einem Export-Transparenz-Mechanismus, um sicherzustellen, dass vertragliche Verpflichtungen im Falle eines Vertragsbruchs erfüllt werden. Der Vorstandsvorsitzende von Astra Zeneca aber hat darauf hingewiesen, dass Großbritannien seinen Vertrag drei Monate vor der EU unterzeichnet hat und die britische Fabrik daraufhin früher in Betrieb genommen wurde, was die Lieferkapazität des britischen Werks erhöht. Außerdem, so Astra Zeneca, verpflichte ihr Vertrag mit der EU nicht zu vorzeitigen Lieferungen. Lediglich die Veröffentlichung des Vertrages kann es Außenstehenden ermöglichen, diesen Streit zu beurteilen.

Fünftens könnten relativ träge industriepolitische Maßnahmen zur Steigerung der Produktionskapazitäten ein weiterer Faktor für die langsamere Impfkampagne der EU sein. Fabriken von Konkurrenten sollten so schnell wie möglich mobilisiert werden, um das Gesamtangebot an Impfstoff zu erhöhen. Sanofi hat sich nun auf Druck der französischen Regierung hin bereit erklärt, seine Fabrik in Frankfurt für die Produktion zusätzlicher Biontech/Pfizer-Impfdosen zu nutzen. Die ehemalige Novartis-Fabrik in Marburg wird auch bald Impfstoff in großen Mengen produzieren. Aber warum haben die Regierungen nicht schon viel früher auf solche Vereinbarungen gedrängt und die nötigen finanziellen Mittel bereitgestellt, um sie für die Unternehmen rentabel zu machen?

Abschließend der sechste Grund: Die EU war nicht auf die Pandemie vorbereitet. Erst als die Krise in vollem Gange war, ermächtigten die EU-Länder die Kommission zu Impfstoff-Einkäufen im Namen aller Mitgliedsstaaten. Im Gegensatz dazu hatten die USA Institutionen wie Biomedical Advanced Research and Development Authority (BARDA), die bereits im Februar die Impfstoffforschung unterstützten. Eine Rennmaschine erst zu bauen, wenn das Rennen schon begonnen hat, bedeutet logischerweise Verzögerungen.

Viele EU-Länder hätten es nicht geschafft, selbst schnellere Lieferungen auszuhandeln

Es ist unmöglich zu sagen, wie die Dinge gelaufen wären, wenn die EU-Länder nicht gemeinsam gehandelt hätten. Mit Sicherheit wäre es vielen Mitgliedsstaaten nicht möglich gewesen, schnellere Impfstofflieferungen mit den Pharmaunternehmen auszuhandeln. Zudem scheint die Annahme realistisch, dass der Druck der Trump-Regierung auf Pharmaunternehmen enorm war, zuerst den US-Markt zu beliefern. Die EU-Länder dagegen hätten einzeln weniger Verhandlungsmacht gehabt. Außerdem wäre die Politik des Impfstoff-Nationalismus innerhalb der EU extrem toxisch gewesen.

Die EU muss jetzt ihre Lektion lernen. Sie braucht Institutionen, die mit denen der USA vergleichbar sind, um mit solchen Situationen umzugehen. Die Initiative der Kommission, die Behörde für die Krisenvorsorge und -reaktion bei gesundheitlichen Notlagen (die Health Emergency Response Authority, kurz HERA) zu stärken, ist zu unterstützen. Die Bürger der EU müssen entscheiden, wie viel Risiko sie bereit sind zu tragen, wenn es um die Zulassung und Haftung von Impfstoffen geht. Und die EU-Staats- und Regierungschefs sollten mehr Mittel für die Entwicklung und Beschaffung von Impfstoffen bereitstellen.

In den kommenden Monaten wird sich zeigen, wie schnell die EU den Rückstand bei den verabreichten Impfungen aufholen kann. Dazu muss die EU alle finanziellen und politischen Ressourcen mobilisieren.

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