Mailand (dpa/tmn) - Eine Umarmung, das ist, was wir alle in diesen Zeiten von Krieg und Pandemie, von Unsicherheit und Verletzlichkeit brauchen. Aber: Man kann sie oft nicht bekommen, denn wir umarmen wegen der Infektionsgefahr selbst Freunde und Familie nicht mehr so oft wie früher.
Aus solchen Entwicklungen, solchen Gefühlen und Sehnsüchten entstehen Trends und mit ihnen Produkte, die uns genau das geben sollen. Daher dürfte es jetzt eigentlich niemanden wundern, dass es gerade viele Möbel gibt, die zu umarmen scheinen. Das ist auf der Einrichtungsmesse Salone del Mobile in Mailand (7. bis 12. Juni) zu sehen, der weltweit wichtigsten Schau der Möbelbranche.
Ein gutes Beispiel für diesen Trend ist der Sessel Sova Loungechair des Designers Patrick Norguet für Zanat. Sein Holzgestell wirkt wie eine menschliche Figur, die Sitzende mit weiten, einladenden Gesten für den Moment festhält.
Polster, die den Rücken umarmen sollen
Auch Mauro Lipparini hat für Bonaldos Neuheit ein solches „organisches Design“ gewählt: Der Sessel OLOs hat eine Schale aus gebogenem Schichtholz, die dank ihrer Elastizität den Sitz fast wie mit einer Umarmung umschließt, so das Unternehmen. Das Möbel „stellt jenen Sinn für Menschlichkeit und Natürlichkeit wieder her, mit dem wir uns auf die uns umgebenden Objekte beziehen, wenn wir sie mit wohltuender Ungezwungenheit verwenden“.
Sebastian Herkners Stuhl Morton für Wittmann ist ein weiteres Beispiel. Die zweiteilige Rückenpolsterung umschließt den Körper sanft, so der Hersteller.
„Der Gedanke des Umarmens kann eine gewisse Sicherheit, eine Geborgenheit bieten“, sagt Designer Sebastian Herkner. „Es sind natürlich turbulente Zeiten. Da dachten wir, Corona sei mehr oder weniger vorbei, jetzt haben wir das Desaster mit der Ukraine. Ich glaube, dass wir daher so ein Gefühl brauchen. Der Schulterschluss, die Umarmung ist da eine tolle Geste.“
Persönlicher Kontakt in Möbelform
Diese Geste vermittele der Stuhl Morton nicht nur durch seine Form. Er schwingt auch etwas zurück, wenn man sich drauf setzt. „Das ist eine Geste des Ankommens, des Relaxens, auch des Kommunizierens. Denn das hat im Realen ja zuletzt auch gefehlt. Wir hatten fürchterlich viele Calls, aber das persönliche Gespräch ist ja viel angenehmer.“
Gerade in Mailand, wo in der Einrichtungswelt Trends zum ersten Mal gezeigt werden und erst dann ihren Weg um die Welt finden, erlebt man selten eine so große Vielzahl an Produkten, die von ihren Designern und Anbietern mit annähernd den gleichen Worten beschrieben werden: Das Umarmen ist in aller Munde - vielleicht gerade auch, weil es in Italien so sehr zu einer herzlichen Begrüßung dazugehört.
Manches gerade neu erscheinende Möbel heißt deswegen auch bewusst so: Hug ist eine Tischserie von Giulio Iacchetti für Fantin. „Für mich ist das Umarmen und wieder Annehmen das große Thema dieser Messe“, sagt der Designer. „In unserer Zeit ist es schwierig geworden mit dem Umarmen. Wir müssen nicht nur davon sprechen, uns wieder umarmen zu können, sondern es auch wieder wirklich tun.“
Menschliche Weichheit in Möbelform bringen
Daher stand bei der neuen Zusammenarbeit von Fantin mit Giulio Iacchetti von Anfang an die Frage im Raum, wie man eine Umarmung und ein Möbel zusammenbringen könne, berichtet Iacchetti auf der parallel zur Messe stattfinden Designweek. „Wenn man über das Umarmen nachdenkt, dann steht das fast im Kontrast zu dem Aspekt, dass man hier ein technisches Produkt vor sich hat. Die Umarmung ist ja eher etwas Weiches, etwas Nachgiebiges.“
Der Weg, den Fantin und der Designer gingen, ist auch nicht selbstverständlich für das Unternehmen: Bislang fertigte es Metallmöbel mit ausschließlich rechteckigen Strukturen. Mit Hug gibt es erstmals eine Produktserie aus mehreren Tischen, die rund geformte Metallteile haben. Und die sich tatsächlich auch noch umarmen können.
Ein umlaufendes Rohr unterhalb der Tischplatte umschließt dafür die Tischbeine. Und das ist nicht nur optische Symbolik, das umlaufende Rohr - also die Umarmung - erzeugt auch „ein äußerst stabiles Gerüst“, so das Unternehmen.
Rundungen statt Kanten, weichere Formen statt harter Schnitte all das ist nicht neu an Möbeln. Schon bei der letzten Mailänder Schau vor Corona, 2019, sah man immer mehr solcher Möbel. Die Hersteller sprachen viel von mehr Heimeligkeit, mehr Weichheit - von Zeiten der Unsicherheit, in denen die Menschen etwas Geborgenheit bräuchten.
Rund, rund, rund - und weich darf es auch sein
Nun sind mehr als drei Jahre vergangen und die Welt hat sich in einem ungeahnten Maße verändert. Aber dieses Grundbedürfnis der Menschen ist heute mehr denn je Zeitgeist. Und das sieht man in Mailand in vielfältiger Weise: Es gibt abgerundete Kommoden und Schränke, weich gepolsterte Bettgestelle, Sofas, in denen man versinken könnte.
Und man hört Aussagen wie diese immer wieder: „Wir haben in diesem Jahr gar keine scharfen Kanten, es dreht sich alles um das Konzept Umarmung“, sagt eine Vertreterin vom italienischen Einrichter Molteni & C bei der Präsentation der Neuheiten.
Der Kniff gelingt: So kann selbst der Tisch Blevio in der Variante mit Marmor-Platte einem eigentlich recht kühlen Material dank der stark abgerundeten Tisch-Enden und ebenso gerundeten Tischbeinen wohnlich(er) wirken.
Ein geschlossener Rücken soll Schutz vermitteln
Manches Möbel wurde sogar der aktuellen Gefühlswelt angepasst. So erhält die Sofaserie Paradise Bird von Luca Nichetto für Wittmann nun eine Variante mit geschlossener Rückseite statt einer bislang offenen Stabkonstruktion. „Die erste Variante war offener, denn als ich sie designt habe, gab es mehr Offenheit“, sagt Designer Nichetto im Interview auf der Mailänder Möbelmesse.
„Es gab in diesem Moment schon die Idee, dass wir in diesem hektischen Leben ein Nest brauchen, dass uns ein bisschen umarmt.“ Dann kam die Pandemie und das hat viel verändert. Ich habe die neue Variante mehr geschlossen, denn ich denke, wir brauchen gerade mehr davon. Und schau dich um, auch wenn wir hier keine Masken mehr tragen müssen, viele Menschen tun es weiterhin. Sie wollen mehr Schutz.
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