Süddeutsche Zeitung

Im Testbetrieb:Die schlaue Fabrik

Die Digitalisierung verändert Produktion und Arbeit. Den Takt geben die Kunden vor, die nach Maß bestellen. In der Smart Factory Kaiserslautern testen Unternehmen, wie das funktioniert. Ein Besuch.

Von Elisabeth Dostert, Kaiserslautern

Heute produzieren sie Etuis für Visitenkarten in der Smart Factory Kaiserslautern. Ein einfaches Produkt. Ein Gehäuse aus Metall und Kunststoff, zwischen Deckel und Boden steckt eine Klammer, damit die Karten nicht rausrutschen. Aber das simple Ding hat es in sich, die Produktionsanlage auch. Ihre Module sind angeordnet wie ein schiefes Ypsilon. In der Smart Factory KL machen sie vor, wie die digitale Produktion funktioniert - und wo es hakt. Sie ist eine Lehrwerkstatt der deutschen Industrie.

Jede Firma, die etwas auf sich hält, jongliert derzeit mit Begriffen wie Industrie 4.0, digitale Produktion, Internet der Dinge, Big Data, künstliche Intelligenz oder Augmented Reality (erweiterte Realität). So auch dieser Tage auf der Hannover- Messe Industrie. Wortreich reden Menschen über lernende, "smarte" Maschinen - die gleichermaßen schlau, geschickt und intelligent sind. Die Erwartungen sind groß: Experten des Beratungsunternehmens Roland Berger schätzen, dass die Digitalisierung allein für Deutschland bis 2025 ein zusätzliches Wertschöpfungspotenzial von insgesamt 425 Milliarden Euro eröffnet. Die jährliche Effizienzsteigerung veranschlagen sie auf 3,3 Prozent.

Die digitale Transformation greift in alle Lebensbereiche ein - sie verändert die Produktion ebenso wie die Arbeit und den Wettbewerb. Es hat ein wenig gedauert, bis die Politik sich des Themas angenommen hat. Nun tut sie es umso heftiger. 2016 veröffentlichte das Bundeswirtschaftsministerium ein Grünbuch, im März 2017 folgte das Weißbuch. "Die Digitalisierung stellt vieles infrage. Kaum etwas bleibt so", heißt es im ersten Kapitel: "Die Welt wird neu vermessen."

Ein paar Jahrzehnte länger als Politiker widmet sich Detlef Zühlke, 67, diesem Wandel. Er ist Initiator der Technologie-Initiative Smart Factory Kaiserslautern und Wissenschaftlicher Direktor Innovative Fabriksysteme am Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI). Wie eine smarte Fabrik funktioniert, kann Zühlke ganz einfach erklären. Er greift zu einem roten Legostein für Kleinkinder und einem Mikroprozessor, etwa so groß wie drei Stück Würfelzucker. Die beiden Dinge liegen immer auf seinem Schreibtisch. Zühlke steckt sie zusammen. Im Grunde funktioniert die digitale Fabrik so einfach.

Jede Anlage ist ein Legostein, ausgerüstet mit einem Mikroprozessor. Die Steine können in fast jeder erdenklichen Reihenfolge zusammengesteckt werden, je nachdem was gerade produziert werden soll. Sie kommunizieren über ein Netzwerk miteinander und mit den Teilen, aus denen dann am Ende das Produkt entsteht. Das kann ein Auto sein, ein Kühlschrank, Seife oder eine Zahnbürste. Im Prinzip ist alles machbar und - das ist eine der großen Verheißungen der digitalen Produktion - in jeder Menge. Auch Einzelstücke, weil die digitale Produktion flexibler ist als die analoge.

Für die Unternehmen ist es künftig wenig sinnvoll, Produkte in China herstellen zu lassen

Andere industrielle Revolutionen gingen von Unternehmern und ihren Erfindungen aus. Dieses Mal ist das anders. Treiber der digitalen Transformation sei der Markt, sagt Zühlke. "Die Kunden sitzen vor dem Computer, konfigurieren ihr Produkt, bestellen und wollen es sofort haben." Deshalb sei es für die Unternehmen künftig weniger sinnvoll, die Produkte in China herstellen zu lassen. Der Transport nehme zu viel Zeit in Anspruch und lohne sich nur bei großen Mengen. "Der Markt zwingt uns zu kleineren Stückzahlen, zu personalisierten Produkten und zu mehr Varianten", erläutert Zühlke. Vielleicht werde es weiterhin noch ein Grundprodukt geben, das in größeren Stückzahlen hergestellt und dann personalisiert wird, so wie die Etuis in Kaiserslautern.

Die Arbeit werde den Menschen nicht ausgehen, ist der Wissenschaftler überzeugt. "Wir werden nicht weniger Arbeit bekommen, sondern mehr", auch weil die Systeme komplexer werden. Probleme würden nur Menschen bekommen, die eine schlechte Ausbildung haben. "Wir brauchen sicher mehr Facharbeiter mit IT-Kompetenzen", so Zühlke.

Zurück in die Fertigungshalle: Hier organisiert sich die Produktion selbst. Insgesamt besteht die Anlage aus acht Modulen auf zwei Inseln. Zwischen ihnen verkehrt ein kleiner selbstfahrender Roboter, er transportiert die halb fertigen Etuis hin und her. Auf den einzelnen Modulen stehen die Namen von Firmen. Mittelständler und Konzerne. Das Lagermodul stammt von der Firma Pilz. Sobald der Auftrag für die Herstellung der Etuis eingeht, nimmt das Modul ein leeres Werkstück aus dem Lager. Wenn der Vorrat im Lager zur Neige geht, melden die Module dem Lieferanten, dass er neue Metalldeckel, Heftklammern oder Kunststoffböden liefern muss. Im zweiten Modul, es stammt von der Firma Festo, wird der RFID-Chip im Etui-Boden mit allen Daten programmiert, die für die Fertigung nötig sind, auch die persönlichen Daten des Auftraggebers. Der Chip enthält den kompletten Auftrag, er kennt den nächsten Schritt.

Der Verein

Die Technologie-Initiative Smart Factory KL wurde 2005 als gemeinnütziger Verein gegründet und ist im Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI) in Kaiserslautern angesiedelt. Der Verein hat knapp 50 Mitglieder, darunter Siemens, Bosch Rexroth, Wittenstein, Harting, SAP, Cisco und IBM. Es ist eine bunte Mischung: Mittelständler, Konzerne, Software-Unternehmen, Hersteller von Anlagen und Maschinen und ihre Zulieferer. Einer liefert Kabel, ein anderer Sensoren oder Maschinen oder die Software. Die digitale Produktion läuft nur dann, wenn alle Teile zusammenarbeiten. Initiator und Vorstandsvorsitzender des Vereins ist Detlef Zühlke, 67, Wissenschaftlicher Direktor Innovative Fabriksysteme am DFKI. Er hat an der RWTH Aachen Elektrotechnik und Technische Informatik studiert. Zum Maschinenbau sei er in einer langen Nacht in einer Kneipe von zwei Maschinenbauingenieuren "konvertiert" worden. Die suchten für ihr Institut einen wie Zühlke. Er vergleicht die Smart Factory gerne mit einem großen Bild, das aus vielen Puzzlesteinen besteht. Es ist wie in jedem Verein, es gibt passivere und aktivere Mitglieder. An der Anlage in Kaiserslautern arbeiten gegenwärtig 18 Firmen mit. Elisabeth Dostert

In einem weiteren Modul, es stammt von der Firma Harting (siehe Interview), werden Deckel und Boden miteinander verbunden. Den Deckel gibt es in zwei Farben, ein Stück Personalisierung. Kleine Losgrößen sind eine Herausforderung für die Mitarbeiter. "Sie müssen ganz unterschiedliche Aufgaben übernehmen", sagt Zühlke. Auch dabei kann die Anlage helfen, weil die Mitarbeiter über virtuelle Brillen, sogenannte Smart Glasses, oder kleine Videos am Arbeitsplatz sehen, wie der nächste Arbeitsschritt ausgeführt werden muss. Im fünften Modul wird auf dem Deckel ein QR-Code aufgebracht. Das kleine Quadrat aus schwarzen und weißen Flächen ist die digitale Visitenkarte. Im sechsten Modul wird die Qualität überprüft.

In der digitalen Fabrik arbeiten Familienunternehmen wie Lapp Kabel oder Phoenix Contact mit börsennotierten Konzernen wie IBM zusammen, kleine und große Firmen, Hersteller von Sensoren und Kabeln, Produzenten von Maschinen und Anlagen mit Softwareentwicklern wie Eplan. Für das Netzwerk und die Server sorgt der US-Konzern Cisco. "Industrie 4.0 kennt keine nationalen Grenzen", sagt Zühlke. Die digitale Fabrik läuft nur, wenn manchmal selbst Konkurrenten zusammenarbeiten. Die vierte industrielle Revolution zwingt zu neuen Allianzen. Sie müssen sich auf eine "Sprache" einigen, damit die Komponenten unterschiedlicher Hersteller miteinander kommunizieren können. "Sich darauf einzulassen, fällt größeren Unternehmen mit einem breiten Sortiment gelegentlich schwerer", sagt Zühlke.

In der intelligenten Fabrik in Kaiserslautern haben sie Infrastrukturboxen entwickelt. Sie sehen aus wie sehr große Stecker mit vielen Kabeln, über die die Versorgung mit Strom, Druckluft und Daten läuft. Die Boxen sind kompatibel mit allen Modulen. Was die Verbraucher schon vom Computer zu Hause kennen und wünschen, "Plug and Play" - neue Geräte einstecken und spielen ohne weitere Installationen -, soll auch in der Fabrik funktionieren: Plug and Produce - Einstecken und Produzieren.

Es ist Ende März. Noch läuft die Anlage nicht ganz rund. Am Rande der Produktinseln sitzen Mitarbeiter an ihren Laptops, Maschinenbauingenieure neben Elektrotechnikern und Softwareentwicklern. Die digitale Fabrik ist eine interdisziplinäre Aufgabe. Zühlke hat sie zusammengebracht. Etwas abseits der beiden Inseln steht ein sogenannter Hand-Arbeitsplatz, die Firma Minitec hat ihn eingerichtet. Es werde noch eine ganze Weile Arbeiten geben, die so individuell sind, dass sich eine Automatisierung nicht lohne, sagt Zühlke: "Auch dafür brauchen wir Menschen."

"Wir müssen schneller werden, um den Vorsprung zu halten", warnt der Wissenschaftler

Bis die Digitalisierung auf breiter Front in die Fabrikhallen einziehe, werde es noch zehn Jahre dauern, "mindestens", so der Wissenschaftler. In den Fabriken stehen Anlagen mit einer langen Lebensdauer. Sie können nicht von heute auf morgen ersetzt werden und dann ein halbes Jahr später wieder. Es wird Unternehmen geben, die schneller vorangehen, und andere, die hinterherhinken. Im internationalen Vergleich stehe Deutschland gar nicht so schlecht da. Auf zwei, drei Jahre schätzt Zühlke den Vorsprung. "Aber die anderen sind schneller", sagt er: "Kann sein, dass die uns einholen." Die anderen, das sind zum einen die USA. "Die geben richtig Gas im IT-Bereich und bei der Entwicklung neuer Geschäftsmodelle." Als Aufholjäger in der Fabrikautomation sieht Zühlke Japan, weniger China. Das Land sei immer noch auf Masse ausgelegt.

Was Zühlke Sorgen macht: Die Deutschen seien sehr detailverliebt. Es gebe jede Menge Arbeitsgruppen, wie die Plattform Industrie 4.0 zeige, die vom Bundeswirtschaftsministerium finanziert wird. Sie bringt Unternehmen, Verbände, Wissenschaft und Politik zusammen. "Da wird in vielen Gremien in einem demokratischen Prozess alles tief ausdiskutiert", sagt Zühlke: "Typisch deutsch." In den USA würden sich dagegen ein paar Leute an einen Tisch setzen und einfach loslegen. So funktioniert im Grunde auch die Smart Factory KL. Die Entscheidungen fallen manchmal an einem Tag. Zühlke ist ein Fan des amerikanischen Weges. "Wir müssen schneller werden, um unseren Vorsprung zu halten."

Die Anlage aus Kaiserslautern wird auch in Hannover gezeigt. Zühlke und seine Mitarbeiter sind vor Ort, so wie in den vergangenen Jahren. Der Wissenschaftler hat viele Termine. Ein paar Minister haben sich auch angemeldet. Es gibt viel zu erklären und zu reden.

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Quelle:
SZ vom 25.04.2017
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