Porsche macht den Anfang, in Stuttgart-Zuffenhausen, wo alles begann. Vor dem Porsche-Museum, einem imposanten Bau auf V-förmigen Säulen, stehen am Dienstagvormittag rund 4000 Angestellte und pusten in ihre roten Trillerpfeifen. Eigentlich würden sie gerade in der Frühschicht die Modelle 911 und Taycan zusammenschrauben, aber die Gewerkschaft IG Metall hat zum Streik aufgerufen. „Sieben Prozent, sieben Prozent!“, ruft die Menge im Chor, immer wieder. Und macht sich bei strahlendem Sonnenschein auf zu einem kurzen Marsch.
Vorneweg läuft Anna Toncic. Die 26-Jährige hat in der Lackiererei ihre Ausbildung gemacht, sie ist seit sechs Jahren bei Porsche. Mit dem Handy schießt sie Fotos vom Protestzug – für Instagram. Ein paar Hundert Meter weiter sammelt sich der Protestzug vor einem zur Bühne umfunktionierten Lkw. Toncic steigt auf die Bühne, greift zum Mikro, und ruft „Sieben“, die Menge antwortet mit „Prozent“.
Es sind Szenen, wie sie sich am Dienstag im ganzen Land abspielen, sogar schon kurz nach Mitternacht. Die IG Metall verlor keine Zeit, nicht eine Sekunde. Um 0 Uhr war die Friedenspflicht in der Metall- und Elektroindustrie ausgelaufen, und in der Nachtschicht und später am Tag legten nach Angaben der Gewerkschaft 70000 Beschäftigte in Hunderten Betrieben die Arbeit nieder, darunter bei Mercedes, Ford, Airbus und Siemens.
Natürlich wissen sie auch bei der IG Metall um die Krise. Aber: „Eine Lohnzurückhaltung würde niemandem nutzen“, sagt Tarifvorständin Nadine Boguslawski im Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung. „Die Tarifverhandlungen laufen seit Mitte September, doch getan hat sich viel zu wenig.“
Die Gewerkschafter wollen deutliche Lohnsteigerungen für die etwa vier Millionen Beschäftigten in Deutschlands wichtigstem Industriezweig. Und zwar sieben Prozent mehr, so wie es die Beschäftigten an diesem Morgen auch bei Porsche rufen. Laufen soll der Tarifvertrag für ein Jahr. Die Arbeitgeber bieten dagegen bisher 3,6 Prozent, aber für eine Laufzeit von mehr als zwei Jahren. Das entspricht umgerechnet etwa 25 Prozent von dem, was die IG Metall fordert. „Das vorliegende Angebot der Arbeitgeber ist zu dürftig, als dass es eine ausreichende Antwort auf den anhaltenden Preisdruck der Beschäftigten ist“, sagt Tarifvorständin Boguslawski.
Die Verbraucherpreise in Deutschland sind seit dem russischen Überfall auf die Ukraine um etwa 15 Prozent gestiegen. Die 2022 vereinbarten Lohnsteigerungen von gut acht Prozent plus Inflationsprämie haben dies bei Weitem nicht ausgeglichen, so die Gewerkschaft. Das spürt auch die Porsche-Lackiererin Anna Toncic. Die Mitarbeiter seien zwar stolz, bei Porsche zu sein; sie wüssten um ihre vergleichsweise gute Bezahlung, um die 35-Stunden-Woche und die Beschäftigungssicherung bis 2030. „Aber wir müssen die Löhne an die Inflation angleichen.“ Toncic ist vor einem Jahr Mutter geworden, die Kinderbetreuung, sagt sie, werde immer teurer. Azubis könnten sich ohne einen Nebenjob ihre Ausbildung kaum leisten, rund 1300 Euro im Monat reichten in Stuttgart kaum zum Leben. „Wir fordern 170 Euro mehr im Monat für die Azubis“, sagt Toncic.
Die Arbeitgeber kennen die Sorgen ihrer Belegschaften, doch die Warnstreiks, kritisieren sie, machten die Verhandlungen nur schwieriger. „Die IG Metall schürt unrealistische Erwartungshaltungen“, sagt Oliver Zander, Geschäftsführer des Verbands Gesamtmetall. Die Metall- und Elektroindustrie befinde sich wirtschaftlich im freien Fall.
Wie schwierig die Lage derzeit ist, zeigt die Krise beim Autobauer Volkswagen. Am Montag wurden dessen Pläne bekannt, mindestens drei Standorte in Deutschland schließen zu wollen. Zehntausende Beschäftigte könnten ihre Arbeitsplätze verlieren. Die IG Metall argumentiert jedoch, dass es vielen Firmen in der Metall- und Elektroindustrie nach wie vor gut gehe. Der Volkswagen-Konzern ist von der Metall-Tarifrunde ohnehin nur am Rande betroffen, da er eigene Haustarifverträge hat. Die Friedenspflicht gilt bei VW bis Ende November, nach jetzigem Stand können die Beschäftigten erst dann streiken.
Eine Ausnahme ist das Werk in Osnabrück. Weil für die Beschäftigten dort die allgemeinen Tarifverträge der Metall- und Elektroindustrie gelten, können die Beschäftigten dort bereits jetzt in den Ausstand treten. In der Nacht legten dort nach Gewerkschaftsangaben 250 Beschäftigte die Arbeit nieder. Dabei dürfte es ihnen nicht nur um die Lohnforderungen ihrer Gewerkschaft gegangen sein, sondern auch um die Lage an ihrem bedrohten Standort. Bei Porsche in Zuffenhausen dagegen ist die Stimmung noch vergleichsweise entspannt. Aber natürlich strahlt die Krise beim Mutterkonzern auch auf den Stuttgarter Luxushersteller aus. Die Beschäftigten treibt die Sorge davor um, dass auch bei ihnen in Zukunft Jobs auf der Kippe stehen könnten.
„Die IG Metall setzt auf Eskalation“
Die IG Metall will trotz der Krisenstimmung nicht klein beigeben. Diese Sicht scheinen viele Beschäftigte zu teilen. Mehr als hundert Betriebe beteiligten sich am Dienstag am Warnstreik. Allein in Bayern waren es fast 20 Unternehmen, darunter BMW, Bosch, Linde, ZF und Siemens Healthineers. „Die Beschäftigten erwarten von ihren Arbeitgebern, dass ihre finanziellen Sorgen ernst genommen werden“, sagt IG-Metall-Bezirksleiter Horst Ott.
Otts Konterpart bei den Arbeitgebern argumentiert ganz anders. „Die IG Metall setzt mit ihren Warnstreiks auf Eskalation in den Betrieben, das ist zum jetzigen Zeitpunkt völlig unangebracht“, sagt Bertram Brossardt, Geschäftsführer des bayerischen Metallverbands vbm. Die Arbeitgeber hätten bereits ein tragfähiges Angebot vorgelegt. Es sei jetzt an der Gewerkschaft, in der am Dienstag begonnenen dritten Verhandlungsrunde darauf einzugehen.
Die Verhandlungsrunde dauert voraussichtlich bis zum 5. November. Arbeitgeber und Vertreter der IG Metall treffen sich nacheinander in den einzelnen Gewerkschaftsbezirken. Die Delegationen loten aus, ob ihnen eine Einigung auf einen Pilotabschluss gelingt, der dann zu einem bundesweit neuen Tarifvertrag führt. Bis dahin aber scheint der Weg noch weit. Nach Ende der Verhandlungen im Bezirk Küste am Dienstag Nachmittag sagte der dortige IG-Metall-Chef Daniel Friedrich: „Wir bewegen uns nur in Trippelschritten“. Es lohne sich jedoch, weiter zu verhandeln. Aber Friedrich sagt auch: „Wir werden nun den Druck erhöhen“ – das klingt nach weiteren Streiks.
Der bayerische Arbeitgebervertreter Brossardt verweist auf eine vom Institut der deutschen Wirtschaft erstellte Studie. Sie vergleicht die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands mit den Konkurrenten Frankreich, Italien, Österreich, Tschechien und USA. Demnach leiden deutsche Unternehmen zusätzlich zu hohen Steuern, hohen Energiepreisen und bürokratischen Lasten auch unter hohen Lohnstückkosten. „Seit rund zehn Jahren kennen die Kostenbelastungen in Deutschland nur noch eine Richtung – aufwärts“, sagt Brossardt.
IG-Metall-Vorständin Boguslawski hält dagegen, dass die deutsche Wirtschaft derzeit auch deshalb stagniere, weil die Menschen sich beim Konsum zurückhalten. Die Arbeitgeber müssten mit schnellen und spürbaren Lohnsteigerungen ihren Beitrag gegen das Angst-Sparen leisten: „Die Menschen brauchen Perspektiven und Geld zum Ausgeben.“ Eine bessere Binnenkonjunktur sei gerade jetzt im Interesse der Unternehmen.
In Zuffenhausen bei Porsche arbeitet an diesem Dienstag in der Frühschicht jedenfalls niemand mehr. Um kurz vor elf Uhr ist die Streikkundgebung bei Porsche vorbei. Die rund 4000 Teilnehmer strömen langsam zur S-Bahn und zu ihren Autos. Der Warnstreik bei Porsche am Dienstag soll nur der Anfang gewesen sein. Dauert es noch länger, bis sich Gewerkschaft und Arbeitgeber annähern, dann ist man hier laut Betriebsratsbüro gut vorbereitet: Für kommende Woche seien schon die nächsten Ausstände geplant.