Arbeitsplätze:IG-Metall-Chef wirft Konzernen Kahlschlag vor

ThyssenKrupp - Quartalszahlen

Ein Stahlarbeiter von Thyssenkrupp nimmt eine Probe an einem Hochofen.

(Foto: Roland Weihrauch/dpa)

Allein in den Branchen der IG Metall haben Firmen binnen zwölf Monaten angekündigt, mehr als 200 000 Stellen abzubauen. Einige nähmen Corona als Vorwand, sagt IG-Metall-Chef Hofmann.

Von Thomas Fromm, Alexander Hagelüken und Benedikt Müller-Arnold

Die Zahl schockiert: Allein in den Branchen der IG Metall haben Firmen binnen zwölf Monaten angekündigt, mehr als 200 000 Stellen abzubauen - von Auto bis Stahl, vom Flugzeug bis zur Küche. Die Gewerkschaft wirft Firmen wie Conti oder Schaeffler nun vor, Corona als Vorwand zu nehmen. "Eine Reihe Arbeitgeber nutzt die Krise, um in Deutschland zum Kahlschlag anzusetzen und Arbeit in Billiglohnländer zu verlagern", sagt IG-Metall-Chef Jörg Hofmann der Süddeutschen Zeitung: "Wenn manche Betriebe gleichzeitig Liquiditätshilfen oder andere steuerfinanzierte Stützungen in Anspruch nehmen, ist dies skandalös."

Nach Jahren des Booms streicht die deutsche Industrie massenhaft Stellen. Was davon liegt an der Pandemie, was am Strukturwandel und was ist einfach Kahlschlag? Finden betroffene Arbeitnehmer je neue Jobs? Die Gewerkschaften stemmen sich zunehmend gegen die Pläne.

Erfolgsverwöhnte Branchen wie die Autoindustrie und ihre Zulieferer waren schon vor Corona im Abschwung, analysiert Dominik Groll vom Institut für Weltwirtschaft (IfW). "Strukturprobleme wie der Abgasskandal und der Wandel zur Elektromobilität, die schon einige Zeit bestehen, wirken sich jetzt voll aus. Die Unternehmen nehmen das zum Anlass, den Strukturwandel schneller voranzutreiben, als sie das ohne Corona getan hätten."

Corona, sagen die Manager der Autobranche, habe der Industrie in den vergangenen Monaten den Rest gegeben. Für die große Krise aber habe man keinen Virus gebraucht - die hatte man auch so schon. Es geht um sehr einfache Zusammenhänge in dieser Branche, die gerade mitten im Umbruch steckt: Um ein Elektroauto zu bauen, braucht man weitaus weniger Menschen als für die Produktion eines Autos mit Benzin- oder Dieselmotor.

Die Zeit der Kolben und Dieselpumpen ist vorbei

Und: Man braucht andere Menschen. Wenn irgendwann in den kommenden Jahren dann also vor allem E-Autos auf den Markt kommen, ist die Zeit der Kolben und Dieselpumpen vorbei. Wie es genau kommen wird in den nächsten Jahren? Keiner weiß es. Woher auch: In der Autoindustrie gab es seit Ende des 19. Jahrhunderts eine ständige Weiterentwicklung des Verbrennungsmotors - einen derart revolutionären Umbruch wie jetzt gab es seit der Erfindung des Autos noch nicht. Und das ist ja nicht das einzige Problem. Handelskriege, Corona-Konjunktureinbruch, Technologiewandel: Selten gab es für die Autoindustrie und einige andere Industriebranchen so viele Risiken auf einmal.

Besonders stark trifft es diejenigen, die den Autoherstellern zuliefern. Zum Beispiel Schaeffler aus Herzogenaurach, ein Unternehmen mit fast 85 000 Mitarbeitern. Bis 2022 sollen an die 4400 Jobs gestrichen werden, mehrere Werke sollen verschwinden. Oder der Hannoveraner Zulieferer Continental, bei dem weltweit an die 30 000 Jobs auf der Kippe stehen, 13 000 davon allein in Deutschland. Sie könnten neu ausgerichtet werden, so heißt es. Oder verlagert werden. Oder verschwinden.

Die beiden letzteren Varianten sind für IG-Metall-Chef Hofmann natürlich ein Graus, ob bei Autozulieferern oder sonst wo in der Industrie: "Je länger der Krisenverlauf, umso mehr entwickelt sich Druck auf die Beschäftigung. Den Unternehmen muss aber klar sein: Sie gefährden ihre eigene Zukunftsfähigkeit."

Der 64-jährige Obermetaller erkennt uneingeschränkt an, dass die Unternehmen mit Dekarbonisierung und Digitalisierung große Aufgaben vor der Brust haben. Dafür bräuchten sie Investitionen in Forschung und Entwicklung - vor allem aber auch in gut ausgebildete Fachkräfte. "Sonst werden sie im internationalen Wettbewerb bei Themen wie Wasserstoff oder Elektromobilität das Nachsehen haben."

Welche Art von Wandel für Arbeitnehmer fatal werden könnte, zeigt ein Blick ins bevölkerungsreichste Bundesland Nordrhein-Westfalen. Hier sind es autonahe Industriebetriebe mit vergleichsweise gut bezahlten und mitbestimmten Arbeitsplätzen, die den größten Stellenabbbau angekündigt haben. Thyssenkrupp bis zu 6000, Hella bis zu 1350, Deutz bis zu 1000. Zugleich sucht die Deutsche Post mehr als 10 000 Paketzusteller für die Hochsaison um Weihnachten herum. Doch solche Tätigkeiten sind traditionell weniger gut bezahlt als in der Industrie, wo die Gewerkschaften hohe Löhne durchgesetzt haben.

Ach ja, der Motorenbauer Deutz will zwar mehr als ein Fünftel aller Stellen in Deutschland abbauen, aber künftig mehr Komponenten in China herstellen.

Ein Beispiel dafür, wie eine längere Strukturkrise zur Abwärtsspirale wird, ist der Münchner Lkw- und Bus-Hersteller MAN. Schon vergangenes Jahr war klar: Der Lkw-Markt kommt ins Stocken. Spediteure warten ab, bevor sie neue Laster kaufen. Schlechte Nachrichten für eine Branche, die gerade jeden Euro Gewinn braucht, um in neue Technologien zu investieren. Anfang des Jahres war von einem Abbau von 6000 Stellen die Rede. Dann kam Corona, und vor wenigen Tagen die Hiobsbotschaft: 9500 Jobs sollen weg, jeder vierte.

Viele Konzerne wollen die Produktion an billigere Standorte verlagern

Tatsächlich ist es wohl kaum so, dass die zu VW gehörende Firma für immer und ewig um ein Viertel schrumpfen wird. Ein Großteil der Beschäftigten arbeitet nach wie vor in Deutschland und Österreich. Einfache Rechnung aus Sicht der Konzernstrategen: Will man wieder satte Gewinne einfahren, muss mehr an Orte verlagert werden, wo die Produktion weniger kostet. Die VW-Lkw-Holding werkelt an der milliardenschweren Übernahme des US-Truck-Herstellers Navistar. Hier massiv sparen, da dazukaufen - die Diskussion mit Arbeitnehmervertretern dürften in den kommenden Monaten das Klima im VW-Reich weitgehend bestimmen. Auch in der Autoindustrie selbst, bei Audi, BMW, Daimler, Opel und Co. werden ja viele Jobs gestrichen.

IG Metall

Metaller Jörg Hofmann kämpft gegen Massenentlassungen.

(Foto: Frank Rumpenhorst)

Ob diese Stellen je wieder in Deutschland entstehen, wenn es den Firmen wieder besser geht? Das ist eine Kostenfrage, glaubt Dominik Groll, Arbeitsmarktexperte beim Kieler IfW-Institut. In den Nullerjahren hätten sich die deutschen Löhne im Vergleich zur Produktivität relativ schwach entwickelt, aber in den vergangenen zwei, drei Jahren seien sie deutlich stärker gestiegen als die Produktivität. "Da kann man sich schon vorstellen, dass Firmen überlegen, mehr im Ausland zu produzieren."

Gewerkschaftschef Jörg Hofmann kämpft für andere Wege als den massenhaften Abbau von Stellen, die für Deutschland dauerhaft verloren sind. Betriebe wie Bosch oder ZF zeigten nach Druck durch die Arbeitnehmervertreter: Es geht anders. "Das beweisen Unternehmen, die alle Möglichkeiten der Beschäftigungssicherung nutzen, aber gleichzeitig durch Investitionen und Qualifizierung der Beschäftigten den Weg in eine nachhaltige Zukunft öffnen."

Um massiven Stellenabbau zu verhindern, sei Kurzarbeit ein zentraler Baustein - aber stärker als bisher mit Qualifizierung verbunden. Wo die an bestimmte Bedingungen geknüpfte Kurzarbeit nicht (mehr) möglich ist, schlägt Hofmann eine Vier-Tage Woche vor. Diese setzen bereits manche der von ihm gelobten Betriebe um. Es dürfte ein großes Thema in der kommenden Tarifrunde der größten deutschen Gewerkschaft werden.

Generell müssten die Firmen die Voraussetzungen schaffen, um den Beschäftigten im Strukturwandel Perspektiven zu geben: "Dies verlangt Investitionen." In manchen Branchen drohe aber Überschuldung. Kleine und mittlere Zulieferer will er daher durch Transformationsfonds mit Geld für Investitionen versorgen - und für diese Fonds privates Kapital genauso mobilisieren wie staatliches.

Zum ganzen Bild gehört, dass die Industrie den Stellenabbau, wo er denn stattfindet, vielfach über ein paar Jahre streckt und sozialverträglich plant. Allerdings stehen nun immer öfter Entlassungen im Raum. So wie beim Autobauer Opel, der inzwischen zum französischen PSA-Konzern gehört und betriebsbedingte Kündigungen in einem Tarifvertrag bis zum Jahr 2025 ausgeschlossen hatte - eigentlich. Dort und in anderen Unternehmen stehen heftige Konflikte mit den Gewerkschaften an.

Zum ganzen Bild gehört auch, dass die aktuelle Wirtschaftskrise deutsche Arbeitnehmer insgesamt bisher weniger trifft als andere Nationen. Dominik Groll vom IfW-Institut rechnet damit, dass die Arbeitslosigkeit von im Schnitt 2,3 Millionen 2019 dieses Jahr auf nur 2,7 Millionen steigt. Über so einen vergleichsweise geringen Anstieg, so bitter er für jeden Betroffenen ist, wären die USA, Spanien oder Italien froh. Allerdings sieht Groll die Arbeitslosigkeit in Deutschland nur langsam wieder sinken, auf 2,5 Millionen 2022. "Wir gehen davon aus, dass das niedrige Niveau vor Corona nicht mehr erreicht wird. Denn das verdankte sich dem jahrelangen Boom."

Die Industrie, die in Deutschland immer noch größere Bedeutung hat als in den meisten Staaten des Westens, spürte diesen Boom besonders. Nun ist er vorbei. Jörg Hofmann sorgt sich, dass viel zu wenig Betriebe eine Idee für morgen hätten. "Solange die Aufträge reinkommen, wird die Frage nach dem Wandel nicht gestellt. Diese Betriebe fahren im Nebel absehbar an die Wand."

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