Süddeutsche Zeitung

Ifo-Studie zu Arbeitsbedingungen im Handel:Ein Viertel weniger Lohn

Der Handel in Deutschland bezahlt nur noch jeden Zweiten nach Tarif - mit fatalen Folgen für die Beschäftigten. Sie bekommen nicht nur weniger Geld, sondern haben meist auch keinen Betriebsrat, der ihre Interessen vertritt.

Von Alexander Hagelüken

In Kürze wird in der Handelsbranche wieder ums Geld gefeilscht. Arbeitgeber und Gewerkschafter ringen um das Gehalt in Supermärkten, Modeketten und anderen Geschäften, zum Beispiel am 22. Juni in Baden-Württemberg.

Weil jede Region einzeln verhandelt, findet dieser Tarifkampf wenig Beachtung. Im Groß-Streikjahr 2015 absorbieren Erzieherinnen und Lokführer die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit.

Jetzt zeigen neue Daten, vor welch dramatischem Wandel sich die Gespräche im Handel abspielen, der mehr als drei Millionen Menschen beschäftigt: Inzwischen bezahlt weniger als jeder dritte Betrieb nach Tarifvertrag, enthüllt eine Studie des Münchner Ifo-Instituts, die der Süddeutschen Zeitung vorliegt.

Es ist seit Mitte der Neunzigerjahre ein Phänomen in der gesamten deutschen Wirtschaft, dass Unternehmen aus den Flächentarifverträgen ausscheren, um die Lohnkosten zu senken und die Arbeitsbedingungen stärker nach ihren Wünschen zu gestalten.

Binnen von gut einem Jahrzehnt hat sich viel verändert

Im Handel ist dieser Trend aber besonders stark, ermitteln die Ifo-Forscher. In der deutschen Wirtschaft arbeiten zwei von drei Beschäftigten nach Tarifvertrag. Am Bau, bei der Warenproduktion oder im Finanzgewerbe ist der Anteil höher. Im Handel dagegen profitiert nur noch jeder zweite von branchenweit geltenden Löhnen - im Jahr 2000 waren es dagegen fast 75 Prozent. Da hat sich binnen von gut einem Jahrzehnt sehr viel verändert.

Die Auswirkung auf Arbeitnehmer ist gewaltig: Wer keinen Tarifvertrag hat, verdient ein Viertel weniger. Angesichts der ohnehin überschaubaren Löhne für Verkäufer(innen) und andere in der Branche wirkt sich der Unterschied stark aus. Auch gibt es nur in zwei Prozent aller Firmen ohne Tarif einen Betriebsrat.

Im aktuellen Arbeitskampf stehen sich die beiden Seiten hart gegenüber. Die Arbeitgeber bieten 1,5 Prozent mehr Lohn. "Das sind 21 Cent mehr die Stunde", kritisiert Jörg Lauenroth-Mago, Verhandlungsführer der Gewerkschaft Verdi in Ostdeutschland, wo nur noch für jeden dritten Beschäftigten Tarif gilt. In Baden-Württemberg gab es zuletzt Warnstreiks bei Kaufhof, H&M, Real, Ikea, Esprit und Zara.

Konzerne gliedern Filialen aus und lassen sie von Selbständigen als eigene Firma führen

Die Ifo-Forscher Gabriel Felbermayr und Sybille Lehwald zeigen, wie sich Handelsfirmen für die Arbeitnehmer unterscheiden. Die Betriebe, die nach Tarif zahlen, sind in der Regel älter, im Schnitt doppelt so groß und sie haben oft mehrere Filialen.

Dagegen sind 80 Prozent der Handelsfirmen ohne Tarifvertrag Einzelbetriebe. Das passt zu einer Strategie, die die Gewerkschaft Verdi seit längerem beobachtet. Konzerne wie die großen Supermarktketten gliedern Filialen aus und lassen die von einem Selbständigen als eigene Firma führen - ohne Tarifvertrag und Betriebsrat. Dabei tun sich laut Verdi Edeka und Rewe besonders hervor, "mit dem Ergebnis, dass circa 250 000 Beschäftigte direkt oder indirekt von Dumpinglöhnen betroffen sind."

Die großen Handelskonzerne wollten Kosten sparen, um sich durch längere Öffnungszeiten, größere Verkaufsflächen und Preiskriege gegenseitig Kunden abzujagen. Weil die letztverfügbaren zuverlässigen Daten für die Ifo-Studie von 2010 sind, kann es sein, dass sich der Trend noch verstärkt hat.

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Quelle:
SZ vom 15.06.2015
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