Süddeutsche Zeitung

Hohe Mieten, knapper Wohnraum:Land der Pendler

Immer mehr Menschen wohnen nicht in der Stadt, in der sie arbeiten. Die Zahl der Pendler ist so hoch wie nie. Das geht zulasten der Gesundheit, der Familien und der Umwelt.

Von Benedikt Müller

Es ist ein Trend, den man im Alltag spüren kann: Wenn der Nachbar in aller Herrgottsfrühe losfährt, um vor dem Stau bei der Arbeit zu sein. Oder wenn die Luft in der S-Bahn immer dünner wird, je näher sie der Innenstadt kommt. Da ahnt man, dass Deutschlands Großstädte immer mehr Pendler anziehen, dass die Menschen immer weitere Wege zur Arbeit in Kauf nehmen, in Kauf nehmen müssen.

Zahlen des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) bestätigen nun: Dort zu wohnen, wo man arbeitet, wird in Deutschland zum immer größeren Privileg. Pendelten im Jahr 2000 noch 53 Prozent aller Arbeitnehmer zu ihrem Job, waren es 2015 etwa 60 Prozent. Ein neuer Rekord. Besonders hoch ist die Pendlerquote in Großstädten mit hohen Immobilienpreisen und Mieten: Laut BBSR sind in Unternehmen in München, Frankfurt, Düsseldorf und Stuttgart inzwischen die Arbeitnehmer von außerhalb in der Mehrheit; ihr Anteil ist dort auf mehr als zwei Drittel gestiegen.

In den Großstädten sind in den vergangenen Jahren viel mehr neue Arbeits- und Studienplätze entstanden als bezahlbare Wohnungen oder als Bahnverbindungen. Die Folge: "Der Flächenverbrauch und die Verkehrsbelastung steigen", sagt BBSR-Direktor Harald Herrmann. Beispiel Frankfurt: Im Jahr 2015 hat die Stadt am Main gut 10 000 neue Jobs geschaffen. Doch es wurden nur 3300 neue Wohnungen fertiggestellt, zeigt die städtische Statistik.

So überrascht es nicht, dass die Zahl der Pendler in Frankfurt seit 2000 um 14 Prozent gestiegen ist. 348 000 Pendler zog die Stadt im Jahr 2015 an. Nur München übertrifft diese Zahlen noch. Dort arbeiten 355 000 Menschen, die außerhalb der Stadtgrenze zu Hause sind, ein Plus von 21 Prozent. Damit ist die Stadt mit den höchsten Wohnkosten zugleich Pendlerhauptstadt Deutschlands.

Seit einigen Jahren entstehen neue Jobs in Deutschland vor allem im Dienstleistungssektor, bevorzugt in den Städten. Der Wettbewerb um Fachkräfte lässt Unternehmen dort expandieren, wo sie viele qualifizierte Bewerber finden: in der Nähe von Hochschulen und Forschungseinrichtungen. Zugleich studieren in hiesigen Städten so viele Menschen wie nie zuvor. Hinzu kommt, dass Zuwanderer vor allem in die Städte ziehen, wo sie die größten Chancen auf Arbeit und Teilhabe sehen.

16,8 Kilometer beträgt die durchschnittliche Entfernung vom Wohnort zum Job

Sie alle konkurrieren nun: um Parkplätze, um Atemluft in der S-Bahn - und um Wohnraum. Obwohl seit Jahren wieder mehr Wohnungen gebaut werden, sind die Mieten in den Großstädten kräftig gestiegen. In München, Stuttgart und Berlin wurden Wohnungen 2016 zu 30 Prozent höheren Mieten angeboten als 2011. Die Kaufpreise sind im selben Zeitraum noch stärker gestiegen, dank niedriger Zinsen.

Vielen Menschen sind die Großstädte schlicht zu teuer zum Wohnen geworden: Seit zwei Jahren beobachten Forscher, dass in München oder Hamburg die Bevölkerungszahl nur noch wegen der Zuwanderung aus dem Ausland steigt. Inländer dagegen verlassen immer öfter die Großstädte Richtung Umland, vor allem Familien. Forscher nennen das "unfreiwillige Stadtflucht", weil die Menschen vor allem vor hohen Mieten und teurem Bauland fliehen. Davon profitieren gut angebundene Städte im Umland; im Fall von München sind das etwa Erding oder gar Landshut, die nun Bevölkerungsrekorde melden.

Ein weiterer Grund, warum mehr Menschen pendeln, ist, dass immer mehr Frauen arbeiten. Wenn beide Partner einen Job haben, ist das Paar wesentlich unflexibler, was den Wohnort betrifft. So steigt nicht nur die Zahl der Pendler - die durchschnittliche Anfahrt zum Job wird auch immer länger: War die Arbeitsstelle im Jahr 2000 noch 14,6 Kilometer vom Wohnort entfernt, waren es 2015 schon 16,8 Kilometer, berichtet das BBSR.

Wer länger im Stau steht oder auf seine verspätete Bahn Richtung Heimat wartet, dem bleibt weniger Zeit für Familie, Sport oder Ehrenamt. Weltweit zeigen Untersuchungen, dass Pendler weniger gesund und häufiger gestresst sind als Menschen mit kurzem Weg zur Arbeit. "Je länger die Fahrzeit der Erwerbstätigen, desto größer die Belastung, auch weil weniger Zeit zum Regenerieren bleibt", sagt Simon Pfaff vom Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung. Eine Studie der Techniker Krankenkasse etwa erkannte unter Pendlern ein höheres Risiko, psychisch zu erkranken. Zudem schadet das Pendeln der Umwelt. Trotzdem fördert der Staat das Pendeln: Arbeitnehmer können die Anfahrt zum Job von der Steuer absetzen.

Was tun? In Anbetracht Hunderttausender Wohnungen, die auf dem Land leer stehen, spricht sich das BBSR dafür aus, die Verkehrswege für Pendler zu stärken. "Es ist wichtig, dass die Infrastruktur mit dem Wachstum Schritt hält", sagt Herrmann, "und das Umland gut an den öffentlichen Nahverkehr angebunden bleibt." Dagegen fordert die Gewerkschaft IG Bau, die Politik müsse mehr bezahlbares Wohnen in den Ballungsräumen ermöglichen. Menschen und Umwelt litten unter einer lange sträflich vernachlässigten Wohnungspolitik, so IG-Bau-Vize Dietmar Schäfers. "Die Quittung erhalten wir jeden Morgen und jeden Abend auf den Straßen."

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SZ vom 03.04.2017
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