Süddeutsche Zeitung

Sozialpolitik:EU diskutiert über den Mindestlohn

Die EU-Regierungschefs kümmern sich bei einem Gipfel um Sozialpolitik. Die Kommission hat sich bei dem heiklen Thema zuletzt vorgewagt - und sollte nach Meinung des DGB-Chefs noch mehr tun.

Von Björn Finke, Brüssel, und Alexander Hagelüken

Die Ziele sind ehrgeizig: 60 Prozent der Beschäftigten in Europa sollen jedes Jahr an Fortbildungen teilnehmen. Bislang liegt der Wert bei unter 40 Prozent. Die Zahl der von Armut bedrohten Menschen in der EU soll um 15 Millionen sinken. Und der Anteil der Erwachsenen, die arbeiten, soll von 72 auf 78 Prozent steigen. Diese Forderungen stellte die EU-Kommission im März in einem Aktionsplan zu sozialen Rechten auf; erfüllen sollen die Mitgliedstaaten sie bis 2030. An diesem Wochenende werden die EU-Staats- und Regierungschefs die Ziele in einer "Erklärung von Porto" befürworten - in der portugiesischen Stadt treffen sie sich Freitag und Samstag zu einem Gipfel.

Kanzlerin Angela Merkel nimmt allerdings wegen der Pandemie nur per Video teil, genau wie die Regierungschefs von Malta und den Niederlanden. Die SPD-Europaabgeordnete Gaby Bischoff kritisiert die Abwesenheit Merkels als "kein gutes Zeichen", zumal die CDU-Politikerin bereits 2017 beim Sozialgipfel im schwedischen Göteborg fehlte. Damals verabschiedeten die Teilnehmer eine Reihe von Grundsätzen, die europäische Säule sozialer Rechte. Der Aktionsplan und der Nachfolgegipfel in Porto sollen diese Grundsätze auf konkrete Ziele runterbrechen.

Am ersten Gipfeltag diskutieren auch Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände in Porto; die Ergebnisse sollen in die Debatte einfließen, welche die Staats- und Regierungschefs am Samstag führen. Reiner Hoffmann, der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB), fordert, dass sich die EU auf einen "sozialen Deal" einigen solle: "Europa wird auf Dauer ohne gemeinsame soziale Spielregeln wirtschaftlich nicht erfolgreich sein", sagte er der Süddeutschen Zeitung. "Das müssen die Kapitalisten endlich mal verstehen".

Die EU hat bislang wenig Kompetenzen in der Sozialpolitik. Hoffmann will, dass sich das ändert - und ist damit ganz auf Linie von Sozialpolitikern im Europaparlament wie Gaby Bischoff oder dem CDU-Abgeordneten Dennis Radtke. Diese Abgeordneten mahnen auch an, dass der Gipfel beschließt, die hehren Ziele aus dem Aktionsplan verbindlich zu machen, und es nicht auf weiche Absichtserklärungen hinausläuft. Doch diese Wünsche dürften sich nicht erfüllen. Denn viele Regierungen lehnen strikte Sozialvorgaben ab und haben kein Interesse daran, der EU mehr Macht in diesem heiklen Politikfeld zu geben: zum Beispiel osteuropäische Regierungen, die ihre niedrigen Löhne als Wettbewerbsvorteil ansehen. Oder die Skandinavier, die keinerlei Einmischung in ihre gut ausgebauten Sozialsysteme wollen.

"Hoffentlich ist noch ein bisschen Substanz drin."

Der CDU-Politiker Radtke sagt deswegen leicht resigniert, er hoffe, dass "bei der Gipfelerklärung am Samstag zumindest noch ein bisschen Substanz drin ist". DGB-Mann Hoffmann hält tiefgreifende Reformen bei den EU-Kompetenzen ebenfalls für unrealistisch. Stattdessen schlägt er ein Sozialprotokoll vor, das dem Europäischen Gerichtshof Leitplanken vorgeben soll; dieser habe "mehrere problematische Urteile" gefällt: "Soziale Grundrechte brauchen Vorrang vor den wirtschaftlichen Grundfreiheiten."

Der Gipfel kommt zu einer brisanten Zeit, denn die EU-Kommission hat ihre knappen Kompetenzen zuletzt kräftig ausgereizt: etwa mit einem Richtlinienvorschlag zu Mindestlöhnen und Tarifbindung. Radtke ist einer von zwei Abgeordneten, die sich im Europaparlament federführend um das EU-Gesetz kümmern - und er möchte den ohnehin umstrittenen Entwurf verschärfen. Der Rechtsakt will die Tarifbindung in Europa erhöhen, also den Anteil der Arbeitnehmer, deren Betrieb von Gehaltstarifverträgen erfasst wird. Liegt dieser Wert bei unter 70 Prozent, sollen die Mitgliedstaaten Aktionspläne aufstellen, um mehr Menschen diesen Schutz zukommen zu lassen. Radtke will die Zielmarke sogar auf 90 Prozent hochschrauben. Das erreichen bislang bloß fünf EU-Staaten: Österreich, Frankreich, Belgien, Finnland und Schweden. In Deutschland beträgt der Satz um die 50 Prozent.

DGB-Chef Hoffmann erhofft sich viel von diesem EU-Gesetz - auch für Deutschland: "Die Brüsseler Kommission rügt seit Jahren zu niedrige Löhne in der Bundesrepublik." Hoffmann gefällt zudem der Vorstoß der EU-Abgeordneten, in den Rechtsakt hineinzuschreiben, dass gesetzliche Mindestlöhne 60 Prozent des mittleren Einkommens in einem Land nicht unterschreiten sollen - ansonsten sollen sie als unangemessen niedrig gelten. "So könnte der Mindestlohn in Deutschland von aktuell 9,50 auf 12 Euro die Stunde steigen", sagt Hoffmann. Während sich SPD und Grüne für diese Erhöhung stark machen, ist die Union dagegen. Solch ein Passus in dem EU-Gesetz hätte allerdings nur empfehlenden Charakter.

Trotzdem sind viele von Radtkes Parteifreunden über dessen sozialen Ehrgeiz entsetzt. So beklagt der CDU-Europaabgeordnete Sven Schulze, dass Radtkes Initiative gegen "Grundprinzipien" der Union verstoße. Der Gescholtene nennt diese Kritik freilich "haarsträubend".

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