Recht:Wann Unternehmen sich auf höhere Gewalt berufen können

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Viele Firmen stellen den Betrieb ihrer Geschäfte in Russland vorerst ein, so auch Adidas. (Foto: Alexey Maishev/IMAGO/SNA)

Ist es rechtlich möglich, im Krieg die Produktion zu stoppen? Kommt darauf an, sagen Experten: auf die Verträge und auf die genauen Umstände.

Von Katharina Kutsche, Hannover

Dass ein Hersteller nicht sicher arbeiten kann, wenn sein Land durch einen Krieg oder eine Naturkatastrophe bedroht ist, ist verständlich. Doch Lieferanten, Subunternehmer oder Zwischenhändler sind vertraglich in der Pflicht. Wer sie verletzt, muss Schadenersatz leisten - es sei denn, im Vertrag steht eine Klausel zu höherer Gewalt. Doch auch dann müssen Firmen sehr genau prüfen, ob diese Klausel greift.

Was ist höhere Gewalt?

Frank Bernardi ist Fachanwalt für Handels- und Gesellschaftsrecht in Eschborn. Er sagt: "Wir sprechen da über Ereignisse, die außerhalb des Einflusses der Parteien liegen, das heißt: Zu dem Zeitpunkt, an dem die beiden Parteien einen Vertrag geschlossen haben, wussten sie nichts von dem, was dann passierte." Bernardi betreut Mandanten, die im Ausland Geschäfte machen wollen. Und da in jedem Land andere Gesetze gelten, vereinbaren die Vertragspartner als erstes, nach welchem nationalen Recht sie zusammenarbeiten wollen.

Höhere Gewalt ist ein deutscher Fachbegriff, der im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) erwähnt, aber nicht gesetzlich definiert ist. Beispiele ergeben sich aus der Rechtsprechung: Krieg, Terroranschläge, Naturkatastrophen, Reaktorunfälle, aber auch Handelsembargos zählen als höhere Gewalt. Im internationalen Recht sind die Begriffe "Force Majeure" oder "Act of God", Akt Gottes, gebräuchlich.

Wann kann man wegen höherer Gewalt die Arbeit unterbrechen?

Im deutschen Recht, aber auch nach dem Kaufrecht der Vereinten Nationen, seien zwei Prüfschritte nötig, sagt Bernardi. "Erstens: Liegt höhere Gewalt vor? Und zweitens: Kann ich genau deswegen die Leistungen nicht erbringen, zu denen ich vertraglich verpflichtet bin?" Erst wenn ein Unternehmer beides mit Ja beantworten kann, könne er die Arbeit ruhen lassen, ohne Schadenersatz zahlen zu müssen - und auch nur, solange die Situation sich nicht ändere.

So schlimm also die Notlage sein mag: Firmeninhaber müssen immer prüfen, ob das wirklich ihre Produktion behindert. Wenn ja, müssen sie ihre Vertragspartner schnellstmöglich darüber informieren. Versäumen sie das und hätte der andere einen alternativen Lieferanten finden können, um die eigene Produktion zu sichern, kann ebenfalls Schadenersatz fällig werden.

Dauert die höhere Gewalt länger an, kann der Geschäftspartner vom Vertrag zurücktreten - meist sei in Verträgen ein Minimum von sechs Monaten festgehalten, sagt der Fachanwalt. "Im Fall der Ukraine gilt: Da der Krieg erst wenige Wochen andauert, können Verträge derzeit nur ruhen, nicht aufgelöst werden."

Wie lässt sich nachweisen, dass höhere Gewalt vorliegt?

In Deutschland helfen die örtlichen Industrie- und Handelskammern (IHK). Sie können ihren Mitgliedern zumindest bescheinigen, dass Umstände vorliegen, derentwegen vertragliche Pflichten nicht oder nur eingeschränkt erfüllt werden können. Solche Schreiben hatten die Kammern schon während der Corona-Pandemie ausgestellt. Umstände könnten im Fall des Ukraine-Kriegs sein: die militärischen Handlungen in dem Land, gestörte oder unterbrochene Lieferketten, Sanktionen, unterbrochener Zahlungsverkehr, Reisebeschränkungen. In solch einer "abstrakten Force-Majeure-Bescheinigung" wird aber nur eine Tatsache, keine Rechtsfolge bescheinigt. Inwieweit ein Unternehmen tatsächlich seine Produktion aussetzen kann, hängt von dessen Vertrag ab und muss im Zweifel juristisch geprüft werden.

Die IHK für München und Oberbayern habe bisher drei Force-Majeure-Schreiben zur Ukraine-Krise ausgestellt, während der Corona-Pandemie seien es rund 20 gewesen, sagt Johanna Wegner, die das Referat Außenwirtschaft leitet. Die Betriebe wendeten sich in der aktuellen Notlage aber viel mehr mit Fragen zum Vertragsrecht und zu Ausfalls- oder Schadenersatzklauseln an die IHK. "Dazu erreichen uns täglich Dutzende Anfragen von Betrieben", sagt Wegner.

Wenn der Krieg vorbei ist, fällt dann auch die höhere Gewalt weg?

Nicht unbedingt, sagt Bernardi, denn wenn Kampfhandlungen enden, gebe es immer noch wirtschaftliche Schäden, etwa durch kaputte Straßen oder ausgesetzten Flugverkehr. Man müsse also konstant bewerten, wie sich die Lage verändert und ob sie einen objektiv daran hindert, seine vertraglichen Leistungen zu erbringen.

Was ist, wenn ich keine Force-Majeure-Klausel im Vertrag habe?

"Dann haben Sie wirklich ein Problem", sagt Bernardi. "Generell gilt der Grundsatz von Treu und Glauben: Niemand kann für etwas verantwortlich gemacht werden, wofür er nichts kann. Aber das müssen Juristen dann im Einzelfall bewerten." Im deutschen Zivilrecht können sich Vertragspartner auf das BGB berufen. Dort ist etwa festgelegt, dass, vereinfacht gesagt, eine Partei dann nicht liefern muss, wenn es ihr wegen höherer Gewalt unmöglich ist (§ 275 BGB).

Konfliktfälle werden vielfach in Schiedsverfahren entschieden, sagt der Fachanwalt. Und seiner Erfahrung nach seien die Parteien durchaus bereit zu Kompromissen und sich zu einigen. Die Prozessbereitschaft sei jedenfalls in der Corona-Pandemie kaum angestiegen.

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