Süddeutsche Zeitung

Hilfszahlungen für Athen:Merkels Scheu vor der griechischen Wahrheit

IWF-Chefin Lagarde fordert mehr Zeit für Griechenland - und stößt damit auf erbitterten Widerstand aus Deutschland. Doch wer wie Kanzlerin Merkel das Risiko eines Athener Euro-Austritts nicht eingehen will, der muss auch den Mumm haben, der deutschen Öffentlichkeit die volle Wahrheit zu sagen: Die europäische Integration gibt es nicht zum Nulltarif.

Claus Hulverscheidt

Der Donnerstag muss für Rainer Brüderle ein guter Tag gewesen sein. In den Nachrichtenagenturen und Online-Diensten, im Radio, im Fernsehen - überall wurde der Name des FDP-Fraktionschefs mit dem von Christine Lagarde in einem Atemzug genannt. Der fröhliche Pfälzer mit dem Hang zum flotten Spruch und die Grande Dame der Weltfinanzpolitik auf einer gemeinsamen Flughöhe?

Möglich gemacht hat das ausgerechnet Wolfgang Schäuble, der beide Kollegen eigentlich schätzt, vor Beginn der Jahrestagung des Internationalen Währungsfonds (IWF) in Tokio aber sichtlich verschnupft war.

Brüderle hatte nicht ausgeschlossen, dass nach den privaten Banken auch die staatlichen Gläubiger Griechenlands - also die Steuerzahler der Euro-Länder - auf einen Teil ihres Geldes verzichten müssen. Und IWF-Chefin Lagarde will Athen zwei Jahre mehr Zeit einräumen, die strengen Sparauflagen der Geldgeber zu erfüllen. Auch das würde allein Deutschland einen weiteren Milliardenbetrag abverlangen, da im griechischen Sanierungsprogramm ein großes Loch klaffen würde.

Beide Überlegungen laufen der offiziellen Haltung der Bundesregierung zuwider, wonach Griechenland zwar Euro-Mitglied bleiben soll, aber keine weiteren Kosten verursachen darf. Entsprechend bemüht war Schäuble in Tokio, die Ideen kleinzureden.

Dabei ist es Lagardes und auch Brüderles Verdienst (bei Letzterem war es wohl ein Versehen), den tiefen Widerspruch, der dieser deutschen Haltung innewohnt, zutage gefördert zu haben. Wer sich wie Kanzlerin Angela Merkel aus gutem Grund dafür entschieden hat, das Risiko eines Athener Euro-Austritts nicht einzugehen, der muss zugleich den Mumm haben, vor die deutsche Öffentlichkeit zu treten und zu erläutern, warum die Euro-Partner noch einmal in die Bresche springen müssen.

Es ist nachvollziehbar, dass sich Merkel eine erneute tagelange Debatte darüber ersparen will, ob sie im Bundestag eine "eigene" Mehrheit für weitere Kredithilfen zusammenbekommt. Nie aber war das so gut zu begründen wie heute: Griechenland hat endlich begonnen, Reformen nicht nur anzukündigen, sondern auch umzusetzen; die jüngsten Probleme sind weniger mangelndem Spareifer als vielmehr einer unerwartet scharfen Rezession geschuldet; und schließlich: Der Sturm auf den Weltfinanzmärkten ist endlich ein wenig abgeflaut. Bei einem Euro-Austritt der Griechen würde er sich sofort in einen Tornado verwandeln und schlimmer wüten denn je.

Angela Merkels Kurs in der Euro-Krise ist keineswegs so erfolglos, wie ihre vielen Kritiker glauben machen wollen. Dennoch leidet ihre Glaubwürdigkeit, weil sie sich nicht dazu durchringen kann, den Deutschen die volle Wahrheit zu sagen: Die weitere europäische Integration ist zum Nulltarif nicht zu haben, sie wird im Gegenteil viel Geld kosten - vor allem den Euro-Hauptprofiteur Deutschland. Es ist interessant, dass zwei so unterschiedliche Menschen wie Brüderle und Lagarde diesen Zusammenhang erkannt und gleichzeitig ausgesprochen haben.

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SZ vom 12.10.2012/rela
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