Herbstgutachten:Alle mal orakeln

Der Aufschwung hält an! Nein, doch nicht! Das Herbstgutachten der Wirtschaftsinstitute widerspricht sich binnen weniger Seiten. Man sollte es einfach nicht so ernst nehmen.

Detlef Esslinger

Das Gutachten umfasst 72 Seiten und ist damit lang genug, dass jeder darin findet, was ihm passt. Der Bundeswirtschaftsminister erkennt die Bestätigung, dass der "XL-Aufschwung" weitergehe und "alle Indikatoren auf Wachstum" gestellt seien. Er ist gerade in Japan unterwegs und hat es womöglich noch nicht bis Seite 28 geschafft, wo die Forscher schreiben: "Für die Prognose bestehen beträchtliche Risiken." Bis dorthin aber ist immerhin ein Vorstandsmitglied des DGB gekommen. Aus den Risiken liest er die Aufforderung, mit "kräftigen Lohnerhöhungen" der Konjunktur endlich Stabilität zu geben. Was also ist die Arbeit wert, die sich acht Institute gemacht haben, um am Donnerstag ihr Herbstgutachten vorzulegen?

Herbstgutachten: Das Herbstgutachten prognostiziert der deutschen Wirtschaft - im Bild Mitarbeiter von MAN - weiteren Aufschwung. Oder doch nicht?

Das Herbstgutachten prognostiziert der deutschen Wirtschaft - im Bild Mitarbeiter von MAN - weiteren Aufschwung. Oder doch nicht?

(Foto: AP)

Man darf es nicht für bare Münze nehmen. Diese Empfehlung ist keine Respektlosigkeit, sie offenbart nicht einmal Zweifel an der Professionalität der Forscher. Die Empfehlung ist ein Zitat eines der Mitwirkenden - des Mannheimer Volkswirts Wolfgang Franz, der vor ein paar Wochen in der Hauszeitschrift seines Instituts eine Art Gebrauchsanweisung für Vorhersagen geschrieben hat. Denn Prognosen sind schwierig, besonders wenn sie die Zukunft betreffen - diese Weisheit wird mal Winston Churchill, mal Karl Valentin zugeschrieben, in der Realität jedoch immer wieder vergessen. Prognosen sind ja auch zu praktisch.

Die Bundesregierung braucht sie, um den Etat zu planen. Unternehmen nutzen sie zur Einschätzung, ob eine Investition sich rechnet. Gewerkschaften formulieren auf dieser Grundlage ihre Tarifforderungen. Und alle zusammen sind sie schwer enttäuscht, sollte es doch schlechter kommen als vorhergesagt; Wirtschaftsforscher gelten dann als Deppen und weniger verlässlich als das Orakel von Delphi.

Vergessen wird in dem Fall, dass sie immer auf der Basis jetziger Daten rechnen müssen. Sie können nicht wissen, wie sich Energie- und Rohstoffpreise entwickeln, was tatsächlich aus den Wechselkursen wird, ob Chinas Immobilienmarkt durchhält. All das sind jene Risiken, vor denen sie nun warnen und die der Wirtschaftsminister fröhlich ignoriert - vielleicht sogar ignorieren muss. Weil Wirtschaft so extrem stimmungsabhängig ist, gehört es zum Job des jeweiligen Amtsinhabers, Optimismus zu simulieren.

Könnten die Forscher mehr tun, um sich vor zu hohen Erwartungen zu schützen? Theoretisch: ja. Sie könnten deutlich erklären, dass die zwei Prozent, die sie für 2011 vorhersagen, unter keinen Umständen wörtlich zu nehmen sind. Dass aus den genannten Gründen damit ein Intervall zwischen einem und drei Prozent gemeint ist. Sie erklären dies auch, aber nicht in der Pressekonferenz, sondern auf Seite 28 ihres Gutachtens - in einer Fußnote. Der Grund für die Heimlichkeit: Sie wollen im Politik- und Medienbetrieb natürlich beachtet werden. Und wer würde sich für Gutachter interessieren, die offen zugeben, dass ihre Prognose immer nur vage sein kann?

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: