Süddeutsche Zeitung

Die Rabbinerin:"Ich möchte junge Menschen für jüdisches Leben begeistern"

Helene Shani Braun lässt sich zur Rabbinerin ausbilden. Die Wahl-Berlinerin ist Anfang 20 und wird bald Deutschlands jüngste Frau in diesem Amt. Als so junge und offen queere Theologin ist sie eine Ausnahmeerscheinung.

Protokoll von Saskia Reis

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"Meine Mutter hat mir alles beigebracht. Vor den Feiertagen haben wir über die Geschichten in der Thora gesprochen, auch wieso es dieses Essen und jene Musik gibt, und alles gemeinsam vorbereitet. So bin ich groß geworden. Außerdem war ich von klein auf in der Gemeinde: erst in einer Kindergruppe und dann auch beim Gottesdienst, später im Jugendzentrum. Je älter ich wurde, umso klarer wurde mir, wie wenig Menschen es gibt, die so sind wie ich - also, wie wenig jüdische Menschen.

Nach dem Abi wusste ich noch nicht gleich, was ich studieren will, und habe in meiner Gemeinde ein freiwilliges Jahr gemacht. Ich bin viel zu Seminaren gereist, auch nach Boston zu einer liberal-jüdischen Konferenz. Dort ist die Idee entstanden, Rabbinerin zu werden. Vor drei Jahren habe ich angefangen, am Abraham Geiger Kolleg in Potsdam zu studieren. Die Bewerbung war schwierig, ich musste unter anderem Empfehlungsschreiben von Rabbinern organisieren und damals wirklich kämpfen, weil ich die jüngste Person war, die sich jemals dort beworben hat.

Was ich sehr wichtig für das Verständnis des Judentums finde: Es gibt nicht das Judentum. Jede jüdische Person, die man befragt, hat ihre eigenen Erfahrungen. Manche sind mit religiösen Traditionen aufgewachsen, bei anderen überwiegen Kultur, Sprache und Essen. Die einen gehen zu den Feiertagen in die Synagoge, andere nicht. Und auch nicht jede und jeder hat die gleichen Erlebnisse mit Antisemitismus. Als Jüdin werde ich oft zu diesem Thema befragt. Ich bin zwar davon betroffen, aber keine Expertin. Bei der Querdenker-Bewegung hat sich im Zusammenhang mit Holocaust-Relativierungen und Verschwörungserzählungen ein Feld entwickelt, in dem sich Tendenzen verstärken können. Doch Antisemitismus ploppt nicht hier und da wieder auf, er ist immer schon da gewesen. Anstatt Juden und Jüdinnen immerzu zu befragen, inwiefern sie von Antisemitismus betroffen seien - also im schlimmsten Fall ihre Traumata zu teilen -, könnte man alle anderen fragen, was sie gegen Antisemitismus tun.

Seit ich in Berlin lebe, ist mir aufgefallen, dass es viele Jüdinnen und Juden gibt, die abseits von Gemeinden groß geworden sind. So kam es zu meinem ,Grundkurs Judentum'. Wir treffen uns alle zwei Wochen für anderthalb Stunden und besprechen ein Thema. Es sind auch Menschen dabei, die nicht jüdisch sind, aber überhandnehmen sollte das nicht. Mein Anliegen ist es nicht, die Mehrheitsgesellschaft aufzuklären, sondern jüdischen Menschen die Möglichkeit zu geben, ihr Wissen zu erweitern. Eine Inspirationsfigur aus der Thora ist für mich die Prophetin Mirjam. Sie ist schon oft in meinen Predigten vorgekommen. Ich möchte auch Frauen hervorheben, weil Männer aus biblischen Geschichten bekannter sind. Sie war eine Anführerin und Kämpferin und ist mein spirit animal. Wenn es sie nicht gegeben hätte, wäre Moses in seinem Schilfkörbchen ertrunken.

Queerness und Judentum schließen sich nicht aus. Ich möchte vorleben, dass du sein kannst, wie du willst, und dich nicht entscheiden musst zwischen Glauben und Sexualität. Vor allem aber möchte ich junge Menschen für jüdisches Leben begeistern. Die nächste Station sind meine zwei Auslandssemester in Jerusalem, und danach wird das Studium nicht mehr allzu lange dauern. Es geht mir aber nicht darum, die jüngste Rabbinerin in Deutschland zu werden. Ich würde mich freuen, wenn es noch mehr gäbe, die auch in ihren Zwanzigern sind. Was könnten wir alles gemeinsam erreichen?! Als die Berlinerin Regina Jonas als weltweit erste Rabbinerin 1935 ordiniert wurde, hat sie gesagt: ,Mir war nie drum zu tun, die Erste zu sein, ich wünschte, ich wäre die Hunderttausendste!' "

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Quelle:
SZ Plan W vom 22. September 2021
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