Heinrich von Pierer: Biographie:Wenn Chefs verklären

Heinrich von Pierer ist nicht der Einzige: Immer wieder rechtfertigen sich ehemalige Unternehmenslenker für ihr eigenes Tun. Das Publikum erhofft sich Einblicke in eine verschlossene Welt.

Hans-Jürgen Jakobs

Man nannte ihn "Neutron Jack". Er war der Mann, der Firmen kaufte, dort das Personal radikal dezimierte und die Gebäude stehen ließ, wie eine Neutronenbombe. Jack Welch, der langjährige Chef des amerikanischen Mischkonzerns General Electric (GE), schrieb für umgerechnet sieben Millionen Euro darüber. Das Buch Jack. Straight from the Gut hob ihn endgültig in mystische Höhen. Stets habe der GE-Allgewaltige direkt aus dem Bauch heraus gehandelt, sein Großunternehmen wie einen Laden an der Ecke geführt und so den Börsenwert um das 30-Fache gesteigert.

Heinrich von Pierer

Heinrich von Pierer erklärt sich - passend zum 70. Geburtstag erscheint seine Biographie Gipfel-Stürme.

(Foto: AP)

"Was zählt", heißt die Autobiographie auf Deutsch. Ja, was zählt?

Der Zwang, das eigene Wirken (v)erklären zu müssen, befällt Wirtschaftsführer auffallend häufig. In ihrem Berufsleben hatten sie Macht über Mitarbeiter - nun wollen sie, nachträglich, Macht über die Deutung ihres Tuns. Manche, vom Unternehmensberater bis zum Ex-Bankvorstand, publizieren im Eigenverlag. Andere finden große Verlage.

Das Genre zählt zu den Gewinnfeldern des Buchmarktes: Das Publikum erhofft sich Einblicke in eine sonst verschlossene Welt und Inspiration zur richtigen Karriereplanung. Die Buchhäuser wiederum kalkulieren, der übliche Tanz der Egomanen in Konzernen liefere genügend saftige Geschichten, die Aufmerksamkeit erregen. Die Folge: Eine nie abreißen wollende Reihe an Chef-Selbstbespiegelungen, von General Electric, Hewlett-Packard, VW - bis zu eben Siemens.

Zehn Jahre nach Jack Welch liefert auch dessen langjähriger Konkurrent Heinrich von Pierer seine Memoiren ab. Zum 70. Geburtstag legt der langjährige Siemens-Vormann in Gipfel-Stürme seine Dinge bloß, auf den Münchner Konzern, auf seine Karriere, auf sein Weltbild. Und auf jene hässliche Korruptionsaffäre, die den einstigen Chef des Vorstands und des Aufsichtsrats von seinem Unternehmen entfremdete.

Wenn Chefs schreiben, holen sie sich normalerweise Ko-Autoren oder Ghostwriter, die Firmen-Interna aufbereiten wie einen Gesellschaftsroman. Das half im Falle des Jack Welch, anschaulich zu beschreiben, wie der GE-Vorsitzende den Nachrichtenchef der Konzern-TV-Tochter NBC feuerte, weil der Journalist just an jenem Abend zum Dinner lud, an dem Welchs Lieblings-Baseball-Klub Red Sox spielte. Der wichtige Fan war verärgert.

Pierer hat sein Buch selbst geschrieben. Der Jurist, der während des Studiums für kleines Geld in der Erlanger Heimatzeitung schrieb, dröselt die Siemens-Affäre im Stil einer Nacherzählung auf. Der Vorabdruck in der Welt am Sonntag wirkt, als hätten sich lange Aktenvermerke zu einem Buch ausgeweitet. Es lebt offenkundig vom Namen des Autors, von der Spekulation auf eine intellektuelle Revanche, aber nicht von der Enthüllung oder der Dramaturgie oder einem fesselnden Schreibstil.

Wenn Chefs schreiben, ist das immer auch Rechtfertigung. Meist fühlen sie sich verkannt. Pierer geht es seinen Worten zufolge nicht um eine "Abrechnung". Es geht ihm offensichtlich um seinen eigenen Journalismus, den er der veröffentlichten Meinung entgegensetzt. Hier sind es gewissermaßen starke Fremdmächte, die ihm in der Bestechungsaffäre zugesetzt haben: die Presse mit ihrem "medialen Trommelfeuer" und all den Indiskretionen; die Aufsichtsräte mit ihren Winkelzügen; die amerikanischen Anwälte von Debevoise mit ihrer Furcht vor der US-Börsenaufsicht SEC.

Der Pierer-Journalismus verbreitet die Botschaft, der Chef habe sich geopfert für die Firma und daher 2007 den geordneten Rückzug angetreten. Deshalb habe er fünf Millionen Euro Schadenersatz an Siemens akzeptiert und schließlich, im März 2010, auch 250.000 Euro Bußgeld an die Justiz. "Meine Familie ermunterte mich, nach dem Schlussstrich mit Siemens auch hier den Schlussstrich zu ziehen, um zu einem normalen, selbstbestimmten Leben zurückzufinden."

Selten ist Anstrengung zu spüren

Ziemlich selten ist bei Büchern von Top-Managern eine echte Anstrengung zu spüren, Erfahrenes zu verarbeiten und der Allgemeinheit solide Thesen der Selbsterkenntnis zu bieten. Am weitesten ging Daniel Goeudevert, der es vom Studium der Literaturwissenschaft an der Sorbonne in Paris über einen Verkäufer-Job bei Citroën schließlich in Deutschland zum Chef von Ford und zum Vorstandschef-Vize von VW gebracht hatte. Sein Weg ins Top-Management habe "etwas Rätselhaftes", biographierte er, er habe sich "wie eine Märchenfigur empfunden, die unabsichtlich und ohne es zu wollen vom Schicksal vorangeschoben wird", hieß es 1996 in Wie ein Vogel im Aquarium.

Die Konzerne erlebte Goeudevert als Eigengebilde, die Menschen verformen. Er habe nicht vermocht, das "höfische Zeremoniell" auf der Vorstandsetage zu durchschauen und nicht erkannt, "dass man dem Chef aus Prinzip nicht widerspricht und um ihn herum ein goldenes Gefängnis baut". Manager würden sich mit einer Entourage nach eigenem Geschmack umgeben und Menschen aus aller Welt empfangen, die Kontakt suchen. Der Manager glaube, das alles habe mit seiner Personen zu tun und entferne "sich weiter und weiter von der Realität des menschlichen Lebens". Solche Weisheiten waren auch auf den VW-Patriarchen Ferdinand Piëch gemünzt, der einige Jahre später sein eigenes Besinnungswerk vorlegte, Auto.Biographie.

Der Porsche-Enkel schob seine ganz eigene Erklärung für die Karriere als Vorstandschef und Ober-Aufsichtsrat unters Volk. VW sei es Anfang der neunziger Jahre so schlecht gegangen, dass nur einer helfen konnte: Piëch persönlich. Sein Aufstieg sei wohl nur möglich gewesen "bei einem Unternehmen, das schon schwer in Schieflage gekommen war - da lässt man eher einen ran wie mich. In normalen, ruhigen Zeiten hätte ich wohl nie eine Chance bekommen."

Natürlich spielte er die Affäre um den von Opel seinerzeit geholten Vorstand Lopez herunter und reicherte das Buch mit vielen Anekdoten an. Zum Beispiel, wie er für den Porsche 917, das "ultimative Tier unter den Rennwagen", vom Zeichenbrett weg 25 "sündteure Autos" orderte, obwohl die Motorenfrage noch nicht geklärt war. Piëch ist ein Kauz, Pierer eher ein Kümmerer und Kämmerer.

Solche Schnurren, solche unerwartete Ehrlichkeit geben einer Chef-Biographie Profil. Sie bieten, im günstigen Fall, eine Provokation - so wie beim einstigen Flick-Generalbevollmächtigten Eberhard von Brauchitsch in Der Preis des Schweigens - Erfahrungen eines Unternehmers.

Er gab seinen Rückblick auf jene Affäre, bei der sein Flick-Konzern mit vielen Millionen Parteien, Politiker und Stiftungen gefördert hatte und am Ende mit einer Steuerbefreiung für den Verkauf eines Pakets an Daimler-Aktien bedacht worden war. "Die sogenannte Spendenaffäre war in Wirklichkeit eine Schutzgeldaffäre", schrieb Brauchitsch, die Parteispenden seien indirekte Steuern gewesen und im Hintergrund habe die Stasi gewirkt. Im Übrigen sei Helmut Kohl "geizig" und Wolfgang Schäuble ein "Jasager".

Dieser Mann zeigt einen gewissen Mut zu eigenen Wahrheiten. Wo liegen solche Wahrheiten im Fall Pierer? Er beschuldigt nicht, er deutet nur an. Er will keine schmutzige Wäsche waschen und doch erzählen, dass nicht alles sauber lief.

Vor allem, dass der neue Aufsichtsratschef Gerhard Cromme und seine Kollegen ihm beim Abgang ein Büro samt Sekretärin bei Siemens in München versprochen hatten, es dabei aber nicht blieb. Im September 2008 habe er ein Schreiben erhalten, wonach er die Räumlichkeiten des Konzerns nicht mehr nutzen dürfe, "was für mich einem Hausverbot gleichkam". Seine persönlichen Akten seilen eilig zusammengeklaubt und ihm in Umzugskisten in die Garage seines Hauses in Erlangen gestellt worden.

Das soll als Ungeheuerlichkeit gegenüber einer Respektsperson wirken, die einst den Kanzler Gerhard Schröder (SPD) beriet und dessen Nachfolgerin Angela Merkel (CDU), die als Kandidat für die Bundespräsidentschaft galt sowie mit Chinas Staatsführung verhandelte. Und die einst für die CSU im Erlanger Stadtparlament saß.

Pierer will immer Korruption bekämpft haben - und nichts vom dunklen Treiben während seiner Amtszeit mitbekommen haben. Mit 1,3 Milliarden Euro wurde überall in der Welt geschmiert. Zu diesen Ereignissen liefert Pierer die Sicht eines betrogenen Buchhalters, eines Opfers, der es in einer schlechten Welt gut gemeint hat. Und der Staatsanwalt habe seine Argumente einfach nicht verstehen wollen.

Fehden bis aufs Blut

Eine Lebensbeichte sieht anders aus. So wie das Buch Die Macht der Freiheit des einstigen IBM-Managers Hans-Olaf Henkel beispielsweise, der darüber sinniert, dass ihn alte Jugendfreunde noch immer "Schniedel" nennen und erzählt, wie sein Vater im Krieg starb, als er fünf war.

Oder wie die Erinnerungen des Curt Engelhorn (Global Player), des einstigen Hauptgesellschafters des Chemieunternehmens Boehringer Mannheim. Er berichtete vor vier Jahren freiweg aus der Welt des großen Geldes, in der sich Familienstämme bis aufs Blut befehden, in der Frauen aufsteigen und abgefunden werden. Sein Privatleben nannte er passend einen "unsteten Bettwechsel".

Engelhorn flüchtete als Heranwachsender in Verkleidungsspiele und ließ später diese Zeit in einer Psychoanalyse bei Alexander Mitscherlich aufarbeiten. Den Firmensitz verlegte er von Mannheim zunächst nach Luxemburg, dann nach Toronto, schließlich nach Zug in der Schweiz, eine neue Holding fand Platz auf den Bermudas, alles auf Furcht vor den Kommunisten. "Die Flucht vor den Sowjets wurde uns als Steuerflucht ausgelegt, was aber wirklich nicht der eigentliche Grund war", schreibt Engelhorn. 1994 fand er als geschasster Verwaltungsratschef die Unterstützung der Mitarbeiter und des Betriebsrats und kämpfte sich wieder in seine Funktion zurück. Der Mann rechnet mit Mitarbeitern, Beratern und Investmentbankern unbarmherzig ab.

Irgendetwas gibt es für langjährige Chefs immer zu korrigieren, wenn sie per Buch Bilanz ziehen. Bei Carly Fiorina, der 2006 gestürzten Chefin des Computerkonzerns Hewlett-Packard, war es ihr Image als Furie der amerikanischen Wirtschaft, das störte. Sie habe mit Interesse männliche Kollegen beobachtet, die Leute feuerten und als "entschlossen" bezeichnet wurden, publizierte sie rasch nach ihrer Demission: "Ich wurde als rachsüchtig abgestempelt." Sie schildert Verwaltungsräte als feige und bescheinigt ehemaligen Chefs, es fehle ihnen an Charakter.

Gleich zwei Biographien - j6m.com und My True Diary - brauchte Jean-Marie Messier, einst Chef des französischen Konzerns Vivendi, um sein Schicksal als gefallener Engel der New Economy zu beschreiben. Fazit: Es waren die anderen. Die schlechte Weltwirtschaft habe Vivendi geschadet, ihm selbst hätten mächtige Strippenzieher in New York und in Paris erledigt. Von Bescheidenheit oder Demut ist in solchen Fällen nichts zu spüren.

Der amerikanische Medien-Krösus Sumner Redstone (MTV, Paramount, CBS) betitelte seine Memoiren denn auch mit A Passion to Win, eine Leidenschaft zu gewinnen habe ihn durchs Leben geführt. Er stehe so gern ganz oben auf dem Siegertreppchen, teilte Redstone 2009 mit und offenbarte, sich mit Nacktbaden im Pool seines Anwesens in Beverly Hills fit zu halten. Damals war er 86. Er fühle sich heute genauso wie mit 20, vertraute er dem Rest der Welt noch an und nannte als Erfolgsrezept einen Cocktail aus Moosbeeren, Orangensaft, Wodka und Diät-Tonic, der mit "Antioxidanten vollgestopft" sei.

Auch Manager-Biographien sollen "news to use" haben. Sie sollen zeigen, wie man es nach oben schaffen kann. Wie Sieger entstehen. Das ist geistiges Futter für die Angestelltenkultur. Als erstes erfolgreiches Beispiel für solche Druckwerke gilt Talking Straight, verfasst vom einstigen Chrysler-Chef Lee Iacocca. Es wurde 1984 auch in Deutschland unter dem Titel Mein amerikanischer Traum ein Bestseller und postuliert, Führungskräfte sollten Mitarbeiter mit dem Ball laufen lassen: "Es ist erstaunlich, wie schnell ein informierter und motivierter Mensch laufen kann." Der "Autopapst" hat 2007 noch eine kleine Abrechnung nachgelegt, mit Where Have All the Leaders Gone - und es als schlimmen Fehler bezeichnet, Bob Eaton als seinen Nachfolger bei Chrysler ausgewählt zu haben.

Aber all das verblasst neben Jack Welchs überragenden Erfolg, der seine irische Mutter lobt, weil sie "einen falschen Fuffziger auf eine Meile Entfernung riechen konnte" und die ihm die Essentials des Managements nahebrachte, zum Beispiel: "Motiviere durch Zuckerbrot und Peitsche." Zusammen mit seiner Frau Suzy legte Welch 2005 im erprobten Stil noch das Buch Winning vor.

Heinrich von Pierer wird es schwer haben, mit seinen Erzählungen von den eigenen Erfolgen als Tennisspieler oder einer Begegnung mit der Queen im Reigen der Autobiographien mitzuhalten. Von guten Werken dieser Sparte erwarten die meisten brutale Offenheit. Ausflüchte kommen schlecht an.

So war die Aufregung im Siemens-Konzern vor den erscheinenden 431 Seiten Pierer vermutlich stark übertrieben. Eine 178 Seiten dicke Medienanalyse des Kommunikationswissenschaftlers Klaus Kocks hatte im Siemens-Auftrag versucht, die öffentliche Stimmung in dem Fall zu erfassen; es war nicht von Intrige und Verschwörung die Rede, sondern von Selbstverstrickung.

Der Siemens-Skandal habe eine "immense Resonanz" gehabt, mit mehr als 4000 Pressetexten zwischen November 2006 und Ende 2010, hält die Studie fest. Das Bild Pierers sei dabei "extrem negativ", der einstige Konzernchef gelte coram publico als "der Verlierer" und nicht als "Mr. Siemens", wobei sich die Medien in der Bewertung kaum unterscheiden würden.

Mit Gipfel-Stürme wird Pierer am Ende wohl kaum das Bild wandeln können. Er wird nicht über Nacht wieder Sieger. Immerhin weiß die Öffentlichkeit jetzt, dass er am 7. April 2007, einem Gründonnerstag, mit einem Tagebuch begann. Der Spiegel hatte berichtet, er solle in "persönlichen Gesprächen" zum Rücktritt als Aufsichtsratschef gedrängt werden. Kontrolleur Cromme habe sich daraufhin in einem Telefonat überrascht gezeigt, offenbart Pierer - und da sei ihm plötzlich das Gefühl gekommen, "es sei besser, alle Details dieser kritischen Zeit festzuhalten".

Jetzt gibt es viele Details. Aber keine Story.

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