Heide Simonis:"Einige Banker treiben mir die kalte Wut hoch"

Heide Simonis, Schleswig-Holsteins Ex-Ministerpräsidentin, über das Versagen in der Wirtschaftskrise und den Neidkomplex.

Melanie Ahlemeier

Heide Simonis, 66, langjährige Ministerpräsidentin von Schleswig-Holstein, meldet sich fünf Jahre nach ihrem Veschwinden von der politischen Bühne zurück - mit einer knallharten Abrechnung: Banken und Politik, so ihr Resümee, hätten in der Krise versagt, schreibt Simonis in ihrem Buch "Verzockt! Warum die Karten von Markt und Staat neu gemischt werden müssen", das soeben erschienen ist.

Simonis, diplomierte Volkswirtin, regierte von 1993 bis 2005 in Kiel. Sie schaffte es als erste Frau in Deutschland an die Spitze eines Bundeslandes. Unvergesslich ist ihr unrühmlicher Abgang aus der Spitzenpolitik: Simonis scheiterte im März 2005 mit ihrem Versuch, eine vom Südschleswigschen Wählerverband (SSW) tolerierte rot-grüne Minderheitsregierung zu bilden - sie bekam in vier Wahlgängen keine Mehrheit, weil ein Abgeordneter aus den eigenen Reihen ihr die Stimme verweigerte. Simonis, die bis Anfang 2008 für zwei Jahre das Kinderhilfswerk Unicef Deutschland anführte und nach Meinungsverschiedenheiten zwischen ihr und dem Vorstand hinschmiss, ist seit 1969 Mitglied der SPD.

sueddeutsche.de: Frau Simonis, in Ihrem Buch findet sich alles, was die Republik seit Mitte 2008 bewegt hat: von der Rettung der Hypo Real Estate über Opel und Schaeffler bis hin zur Berliner Initiative "Pro Reli". War Ihr Buchprojekt von Anfang an auf den großen Überblick statt auf Tiefenanalyse angelegt?

Heide Simonis: Ich wollte darauf aufmerksam machen, wie die morgendliche Zeitungslektüre auf die Menschen wirkt. Sie hoffen, dass alles in Ordnung ist und dass sich der Staat um wichtige Dinge kümmert - und dann müssen sie lesen, was schon wieder alles schiefgegangen ist. Mein Buch ist keine wissenschaftliche Untersuchung, sondern eher eine populär-politische Berichterstattung.

sueddeutsche.de: Als Diplom-Volkswirtin und Finanzpolitikerin hätten Sie sich auch auf einen Aspekt, zum Beispiel die Banken, fokussieren können.

Simonis: Das wollte ich nicht. Ich habe mich auch nicht berufen gefühlt, über Bankgeheimnisse oder über das Funktionieren von Banken zu schreiben. Mir erschien es interessanter, die menschlichen Schwächen wie etwa die Eitelkeiten und das Beharren auf Boni kritisch zu beleuchten.

sueddeutsche.de: Was genau hat Sie in Rage gebracht?

Simonis: Deutsche Banker wollten ebenso hohe Bonuszahlungen haben wie ihre Kollegen von den US-Investmentbanken. Und deutsche Automanager waren genauso abgehoben wie einige ihrer amerikanischen Kollegen. Ich finde, darauf muss man aufmerksam machen, weil dies unserem herkömmlichen Verständnis von Verantwortung in der Wirtschaft und unserer Kultur nicht entspricht.

sueddeutsche.de: Sie teilen - ganz in bewährter Simonis-Manier - kräftig aus. Die Politik, so Ihr Befund, befinde sich in der Krise. Welche Symptome haben Sie ausgemacht?

Simonis: Ich kann das vielleicht an einer Person ausmachen. Wer jetzt Steuersenkungen für bestimmte Branchen verspricht, der muss irgendwo den Zusammenhang und irgendwann das Gefühl dafür verloren haben, was die derzeitige Situation erlaubt. Die Menschen ertragen es nicht, wenn einerseits Steuersenkungen versprochen werden und andererseits den Städten Milliarden an Euro fehlen. Die Politik geht zu lässig über die Bedürfnisse der Menschen hinweg.

sueddeutsche.de: In Ihrem Buch schreiben Sie: "Eine Chance der Krise besteht darin, dass die Rolle des Staates gegenüber dem Markt neu definiert wird, weil die Krise nicht nur die Schwächen des Marktes, sondern auch die des Staates aufzeigt." Wo und wann hat der Staat versagt?

Simonis: Vergleichen Sie mal Skandinavien und Deutschland. Dann fällt Ihnen auf, dass in diesen Ländern von der Mehrheit der Bevölkerung definiert ist: Wie wollen wir leben? Was sind die Ziele unserer Gesellschaft? Dort wird ganz bewusst erwartet, dass der Staat sich um bestimmte Dinge kümmert. Bei uns ist es genau das Gegenteil, bei uns sind Staat und Gemeinwohl in der Defensive. Anders als bei uns lieben die Dänen, Schweden und Finnen ihren Staat - wir lieben ihn nicht. Wir lieben auch keine Politiker. Bei uns ist man selber schuld. Punkt. Bei uns hat man einen Neidkomplex. Punkt. Bei uns regelt alles der Markt. Punkt.

sueddeutsche.de: Als der Markt infolge der Lehman-Pleite im September 2008 kollabierte, war der Staat plötzlich als Retter gefragt.

Simonis: Ja, sogar in Amerika! Die US-Politik hat es schneller begriffen als die Politik hierzulande. Ich will gar nicht Schuld zuweisen, aber offensichtlich hat man geglaubt, man bekomme die Krise mit den normalen Instrumenten in den Griff. Doch dann stellte sich heraus, dass das nicht geht. Was auf einer falschen Geld- und Kreditpolitik beruht, kann nicht die richtige Wirtschaftspolitik sein.

"Ich hätte die HRE bluten lassen"

sueddeutsche.de: Was hätten Sie an der Stelle von Kanzlerin Angela Merkel und Finanzminister Peer Steinbrück im Herbst 2008 anders gemacht? War das, was getan wurde, alles nur "Klein-Klein auf Pepita-Niveau"? Mit diesen Worten hatte einst Wirtschaftsminister Steinbrück Ihre Kieler Politik kritisiert. Hätten Sie die HRE in die Pleite geschickt?

Simonis: Das wohl nicht, aber ich hätte sie bluten lassen. Die Kanzlerin hätte früher die Verstaatlichung der HRE betreiben müssen. Auch die Gesetzgebungen, die jetzt kommen sollen, hätten eher und schneller kommen müssen. Stichworte sind: die Bonuszahlungen, die Re-Regulierung des Finanzsystems, der New Green Deal. Die Politik hätte sich von den Bankern nicht auf der Nase herumtanzen lassen dürfen.

sueddeutsche.de: Banken werden künftig eine Abgabe zahlen müssen, außerdem gibt es Entwürfe, wie Institute im Notfall zerschlagen werden können. War die Finanzwirtschaft bisher zu mächtig?

Simonis: Der Vorschlag der "Bad Bank" lässt mich schütteln. Früher war ein Bankier eine unumstrittene Persönlichkeit, die auch Respekt verdiente. Der alte Adenauer hat sich von Bankiers beraten lassen, die geholfen haben und sich verantwortlich fühlten für grundlegende Ziele der Gesellschaft.

sueddeutsche.de: Ihre Mutter war Sekretärin des ersten Kanzlers der Republik. Sie als Sozialdemokratin sind ein Fan von Konrad Adenauer?

Simonis: Nein, ich bin kein Adenauer-Fan. Aber der Alte hat gesagt: Die Bankiers sollen uns helfen, doch wehe, wenn sie das Maul aufmachen. Sie haben geholfen, und sie haben geschwiegen. Das war der rheinisch-katholische Kapitalismus.

sueddeutsche.de: Ihr Buch liest sich wie eine kleine Generalabrechnung. "Die Banker versuchen mit ameisenhaftem Eifer alles zu verkaufen, was nicht niet- und nagelfest ist", bilanzieren Sie. Trauen Sie sich in Kiel noch zur Bank?

Simonis: Ich weiß zwar nicht, was die von mir halten, aber: ja. Ich meine ja nicht den Kundenbetreuer oder das mittlere Management. Ich weiß, dass es in bestimmten Abteilungen, beispielsweise bei der HSH Nordbank, die ich lange begleiten durfte, ein großes gesellschaftliches Einfühlungsvermögen gibt. Aber einige führende Banker treten nach außen auf, dass es mir die kalte Wut hochtreibt. Allein das, was Herr Ackermann zu seiner Geburtstagsfeier im Kanzleramt von sich gegeben hat, ist unglaublich. Ich habe gedacht, ich falle rückwärts vom Stuhl.

sueddeutsche.de: Wie legen Sie Ihr Geld an, wenn Sie den Bankern nicht mehr über den Weg trauen?

Simonis: Wenn ich um Rat gefragt werde, sage ich immer: Staatspapiere - die sind anständig, die werden ordentlich verwaltet, verzinst und zurückgegeben. Das ist für einen Kleineinkommens-Empfänger besser als all die anderen sogenannten heißen Tipps.

sueddeutsche.de: Haben Sie mit Peer Steinbrück eigentlich mal ein ernstes Wörtchen gesprochen, als die Krise so richtig tobte?

Simonis: Nein, dazu habe ich weder das Recht, noch die Berechtigung gehabt. Ich war nicht mehr in der Politik, er saß auf einem Feuerstuhl. Das muss sehr ungemütlich gewesen sein. Ich fand den Vergleich mit Ouagadougou nicht unbedingt glücklich. Aber dass ihm der Kragen geplatzt ist angesichts der enormen Steuerhinterziehungen, das habe ich gut verstanden. Ich hätte ihm vielleicht ein Zettelchen schreiben sollen: Mach weiter so und behalt die Nerven!

sueddeutsche.de: Sie bescheinigen Frankreichs Präsidenten Nicolas Sarkozy einen Minderwertigkeitskomplex und Kanzlerin Angela Merkel Unfähigkeit. Hat nicht jedes Land die Politiker, die es verdient?

Simonis: Sarkozy hat in einem Anfall von Größenwahn geplaudert, das ist grauselig. Er kam von einer Sitzung mit den Staatsoberhäuptern dieser Welt und zieht sie dann durch den Kakao. Das macht man nicht! Bei Frau Merkel ist es die zögerliche Zurückhaltung: Sie hat nicht vorgegeben, wohin es gehen soll.

sueddeutsche.de: Positiv formuliert ist das die Politik der ruhigen Hand, Lästermäuler nennen es "aussitzen".

Simonis: Damit habe ich Schwierigkeiten. Es gibt Situationen, da erwarten die Menschen, dass man aufsteht und deutliche Worte sagt. Das muss gar nicht dramatisch oder belehrend sein. Sie hätte sagen können: Verdammt und zugenäht, wir sind in einer schwierigen Situation, und da haben uns Einzelne hingebracht. Das hätte der Wahrheit entsprochen.

Gigantische Neuverschuldung - und dann?

sueddeutsche.de: Sie geißeln die gigantische Neuverschuldung. Ist es nicht billig, als Autorin einfach nur zu kritisieren, selbst aber keine konstruktiven Vorschläge zu machen? Was muss geschehen?

Simonis: Ich habe das nicht als Vorwurf, sondern als Bedrohung für den Finanzminister angesehen. Ich habe die Sorge, dass Deutschland innerhalb des EU-Raumes seine Selbständigkeit verlieren könnte, wie ein Blick auf Griechenland es ankündigt.

sueddeutsche.de: Um die horrenden Staatsschulden abzutragen, könnte auch das Gold der Bundesbank verkauft werden. Was halten Sie davon?

Simonis: Da das Gold eigentlich keine geldpolitische Funktion mehr hat, könnte man das machen. Aber dann ist es weg. Und da kommt dann Psychologie ins Spiel: Die Deutschen brauchen das Gold, um sich sicher zu fühlen. Ein Verkauf wäre bestimmt keine leichte Übung, aber ich selbst könnte das emotionslos diskutieren.

sueddeutsche.de: Sie plädieren für "eine neue Balance zwischen Staat und Markt". Muss Politik handlungsfähiger werden, vielleicht auch kompetenter?

Simonis: Auf jeden Fall muss die Politik Daten nennen und Eckwerte festmachen - und da muss der Markt hin. Ein privates Unternehmen, das gut geführt wird und vielleicht auch noch bestimmte soziale und ökologische Kriterien erfüllt, ist einem verstaatlichten Unternehmen vorzuziehen; besonders, wenn diese schwerfällig und unfähig sind, auf neue Entwicklungen zu reagieren.

sueddeutsche.de: Sie haben bereits einen Neuanfang erkannt. Wie sieht der aus?

Simonis: Über die Green New Deal-Diskussion ist etwas aufgegriffen worden, was schon einmal geholfen hat, nun aber ergänzt werden muss.

sueddeutsche.de: Was genau verstehen Sie unter Green New Deal?

Simonis: Das ist ein vom Generalsekretär der Vereinten Nationen in eloquenter Weise propagiertes neues Rollenverständnis des Staates, das auf das "Ergrünen" der Wirtschaft gerichtet ist - auf saubere Produkte und erneuerbare Energien.

sueddeutsche.de: In Deutschland haben wir nicht so schicke Begrifflichkeiten wie die Amerikaner, dafür aber Instrumente wie Schuldenbremse und Bankenabgabe. Reicht das, um die Zukunft zu meistern?

Simonis: Ich habe mich über die Schuldenbremse deshalb so gewundert, weil sie als Allheilmittel angesehen wird. Wir haben enorme Schuldensummen, gleichzeitig will Deutschland in Europa und auf der internationalen Ebene aber eine größere Rolle spielen. Die Festlegung des Bundes - für die Länder und Kommunen gleich mit - ist zudem ein Vermischen der Ebenen in einem Bundesstaat. Ich kann daher die Aufregung verstehen.

sueddeutsche.de: Am Festschreiben der Schuldenbremse ins Grundgesetz war die SPD beteiligt. Wie fällt die Abrechnung mit Ihrer Partei aus?

Simonis: Ich hätte mir eine Diskussion ähnlich der in den skandinavischen Ländern gewünscht: Was müssen wir machen, um unsere Gesellschaft zusammenzuhalten? Dabei kann dann auch eine höhere Steuerquote herauskommen. Was ich hiermit aber nicht fordere.

sueddeutsche.de: Wie sehr leiden Sie, wenn Sie sehen, dass die SPD aus dem Rang einer Volkspartei absteigt und auf dem besten Weg zur Splitterpartei ist?

Simonis: Wir leiden alle darunter. Das Problem ist, dass wir offensichtlich nicht mehr in der Lage sind, etwas zu entwickeln, was mitreißend ist. Man könnte mit alten, aber ungelösten und mit neuen, sich aufbauenden Themen beginnen. Ich persönlich würde das Thema "Arbeit und Umwelt" aufgreifen. Da liegt der eine Hebel. Dazu gehört dann der Green New Deal, um zusätzliche Arbeitsplätze zu schaffen und das Klima zu schützen. Dann ist da das neue Thema "alternde Gesellschaft". Hier liegt ein zweiter Hebel. Was brauchen alte Menschen? Wie organisiert man Pflege und andere Dienstleistungen?

sueddeutsche.de: Sie interessieren sich offensichtlich immer noch sehr für die Politik. Ist das Schreiben ein Ausgleich für das fehlende Mitmischen?

Simonis: Nein, so schlimm ist es nicht. Ich habe 2005 erst eine Zeitlang gebraucht, bis ich mich wieder zurechtgeschüttelt hatte. Heute denke ich mir: Ich habe Zeit, um Bücher zu schreiben. Früher hatte ich kaum Zeit, einen Brief zu schreiben. Vielleicht ist es aber auch beides, nach dem Motto: Ich würde "denen" gerne was sagen - wem auch immer.

sueddeutsche.de: Ihr persönliches Waterloo an der Waterkant hat sich kürzlich zum fünften Mal gejährt. Gefeiert haben Sie das kleine Jubiläum nicht, oder?

Simonis: Ich habe dasselbe gemacht wie am 17. März 2005. Damals hatte ich Sekt kaltgestellt, um nach der Wahl anzustoßen. Wir hatten mit allem gerechnet, nur nicht damit, dass es schiefgeht. Den Sekt haben wir damals trotzdem getrunken. Das haben wir jetzt auch gemacht.

sueddeutsche.de: Ihren Humor haben Sie jedenfalls nicht verloren.

Simonis: Was soll man machen? Der Sekt war doch so schön kalt.

"Verzockt! Warum die Karten von Markt und Staat neu gemischt werden müssen" ist im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht erschienen.

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