Noch hat dieser Staat eines der modernsten Rentengesetze der westlichen Welt. Weil die Menschen auch hier älter werden, ist der Ruhestand an die Lebenserwartung geknüpft. Wer heute jung ist, soll standardmäßig bis 71 arbeiten. Ja, die Rede ist tatsächlich von Italien. Regierungschef Monti begann 2011 die Modernisierung des Landes, das einst für seine Baby-Renten berüchtigt war - Beamte durften nach 14 Jahren mehr oder minder engagierter Bürositzerei in Ruhestand. Monti und seine Nachfolger bereiteten die Nation mit Europas wenigsten Geburten auf die Zukunft vor. Nun holt die neue Regierung die Vergangenheit zurück: Sie verschenkt wieder Frührenten.
Der erste Haushalt, den die Populisten von links und rechts jetzt an Brüssel meldeten, steckt voller solcher Wohltaten: eine Art Grundeinkommen, weniger Steuern für Firmen und eben eine Rente mit 62. Die Regierung in Rom will drei Mal so viel Defizit machen wie mit der EU-Kommission vereinbart. Diese Verschwenderei kommt in einem kritischen Moment. Das schöne Land zwischen Alpen und Mittelmeer drücken die zweithöchsten Schulden in Europa nach Griechenland. Dieser Kreditberg von 130 Prozent der Wirtschaftsleistung muss nicht in die Pleite führen, wenn weiter reformiert und gespart wird wie unter Monti und Co. Belgien hat gezeigt, dass sich eine Verschuldung unter 100 Prozent drücken lässt. Allerdings wird Italiens Kreditberg in die Pleite führen, wenn weiter geprasst wird wie unter der neuen Regierung bisher. Die Kapitalmärkte fordern schon höhere Zinsen. Wird das ein zweites Griechenland?
Italien ist nicht Griechenland. Das stimmt auf verschiedene Weise und hat Vor- wie Nachteile. Zu den Vorteilen gehört, dass Italien jedenfalls im Norden eine Industrienation ist, die anders als Griechenland Export kann. Auch fand Rom, anders als Athen, bisher stets private Kreditgeber. Die vernünftigen Regierungen vor der aktuellen nutzten die Niedrigzinsphase, um den Kreditberg umzuschichten. Italien ist trotz Rekordschulden über die nächsten Jahre relativ günstig finanziert.
Hier beginnen allerdings die Nachteile. Einer Reformregierung würde die günstige Finanzierung Rückenwind für unpopuläre Maßnahmen verschaffen. Den Populisten in Rom dagegen verschafft sie Zeit für unsolides Wirtschaften. Denn die niedrigen Zinsen für einen Großteil der Schuld bedeuten, dass es die aktuelle Regierung weniger trifft, wenn die Kapitalmärkte höhere Zinsen für neue Kredite verlangen. Der Kapitalmarkt wird nur langsam das Korrektiv für die Verschwenderei spielen. Die Populisten bekommen weniger Druck als sie bekommen sollten.
Umso wichtiger ist es, dass Europa als Korrektiv auftritt. Und da gibt es immerhin Hoffnung. Kommissionschef Jean-Claude Juncker ramponierte seinen Ruf, als er bei Frankreichs Fouls gegen die Defizitregeln leise trat. Gegenüber Italien tritt er härter auf. Gottlob. Denn Italien ist in einem besonders wichtigen Punkt nicht Griechenland: Die viertgrößte Wirtschaftsnation der EU kann nicht jahrelang durchgeschleppt werden, wie das mit der siebzehntgrößten geschah. Italiens Scheitern brächte den Euro in Gefahr, von dem kein Land so profitiert wie Deutschland.
Was genau sollte Europa tun? Den Etat der Populisten ablehnen - und Nachbesserung fordern. Allerdings, das kalkulieren sie in Rom vermutlich ein. Und wollen sich damit bei ihren Anhängern brüsten: Seht her, die EU-Tyrannen verweigern euch das Geld, das wir euch geben wollen.
Noch kann ein Euro-Austritt abgewendet werden
Deshalb sollte es Europa der Koalition aus Lega und Cinque Stelle besonders schwer machen. Indem es den Etat nicht einfach ablehnt, sondern Verhandlungen anbietet. Ein bisschen Wohltaten, also ein bisschen mehr Defizit, wäre tragbar - wenn die Regierung im Gegenzug Strukturreformen anbietet. Und entscheidende Pfeiler wie Mario Montis Rentenreform nicht antastet. Pokern mit den Populisten.
So eine unübersichtliche Gemengelage wird es der Regierung in Rom erschweren, sich auf Kosten von Brüssel zu profilieren. Und langsam wird der Druck der Kapitalmärkte zu spüren sein. Dann gibt es zwei positive Szenarien. Nummer eins: Italiens Populisten erleben ihren Alexis-Tsipras-Moment. Der griechische Premier erkannte 2015 nach einem halben Jahr Wüten gegen Brüssel, dass die Griechen den Euro nicht verlassen wollten - und schwenkte auf Kompromiss. Szenario Nummer zwei: Die Italiener wählen die Populisten ab.
Szenario Nummer drei ist weniger positiv: Italiens Populisten setzen sich fest, bleiben populistisch - und prassen ihr Land aus der Euro-Zone. Noch gibt es Hoffnung, dass die Geschichte nicht so endet.