Süddeutsche Zeitung

Milliardenüberschuss:Steuern senken, und zwar für alle

Der erneute Milliardenüberschuss beim Bund zeigt: Es ist etwas faul im deutschen Steuersystem. Die Bundesregierung darf die Durchschnittsverdiener nicht länger vernachlässigen.

Kommentar von Cerstin Gammelin

Ein satter Überschuss im Budget kann Zeugnis für gutes Haushalten sein. Oder aber ein Beleg dafür, dass etwas grundsätzlich nicht stimmt. Für Letzteres spricht der erneute, unerwartet hohe Milliardenüberschuss des Bundes im Jahr 2019. Das fünfte Überschussjahr in Folge zeigt: Es ist etwas faul im deutschen Steuersystem. Und höchste Zeit für die große Koalition, sich darum zu kümmern.

Die Steuereinnahmen des Bundes sind seit 2005 von damals 190 Milliarden Euro auf zuletzt rund 326 Milliarden Euro gestiegen. Weil sich zugleich die Zinszahlungen des Bundes mehr als halbiert haben, konnte sich seit 2014 jede Bundesregierung fühlen wie Dagobert Duck aus Entenhausen, sie kam kaum nach mit dem Geldzählen. Positiv ist immerhin, dass die große Koalition endlich begonnen hat, die Attitüde des Geizhalses abzulegen - und damit so viele Milliarden Euro wie nie zuvor für Bildung, Forschung und moderne Infrastruktur bereitstellt. So wenig der Bundesregierung jetzt vorgeworfen werden kann, beim Investieren nicht aufs Tempo zu drücken, so sehr ist ein anderer Vorwurf berechtigt: dass sie die Interessen derjenigen ignoriert, die das Geld in die Kasse bringen, der großen Mehrheit der Steuerzahler.

Wer 56 000 Euro zu versteuern hat, zahlt auf die letzten Euro den Spitzensteuersatz von 42 Prozent plus Sozialabgaben. Erfahrene Metallfacharbeiter, junge Ingenieure oder Angestellte im mittleren Management zählen steuerlich zu den Spitzenverdienern. Das ist falsch. Und nicht das einzige Problem. Durchschnittsverdiener können sich über steigende Löhne nur bedingt freuen. Der Grund ist die ewig umstrittene kalte Progression: Der Fiskus kassiert für mehr Brutto auch mehr Steuern nach höheren Tarifsätzen.

Aus dieser Steuerbelastung erwächst der härteste Vorwurf, den man der großen Koalition aus Union und SPD machen kann: Sie vernachlässigt die Durchschnittsverdiener. Ausgerechnet die Mittelschicht, die für den Zusammenhalt der Gesellschaft so wichtig ist, wird über Gebühr belastet. Gewiss, die Bundesregierung hat diverse finanzielle wie soziale Wohltaten auf den Weg gebracht, für Bedürftige, für Kinder oder für Häuslebauer. An den einzelnen Maßnahmen ist nichts auszusetzen, aber es profitiert immer nur eine Gruppe von Bürgern und niemals die große Zahl der Steuerzahler. Diese Art von Klientelpolitik muss beendet werden.

Warum nicht die Mehrwertsteuer um einen Prozentpunkt reduzieren?

Es wäre für den Zusammenhalt der Gesellschaft wünschenswert, dass die Bundesregierung alle im Blick hat, wenn sie entscheidet, was mit den überschüssigen Milliarden zu tun ist. Sicher wird sich die Union wieder auf die Forderung nach vollständiger Abschaffung des umstrittenen Soli-Zuschlages kaprizieren wollen oder darauf, Unternehmensteuern zu senken. Die SPD wird die ganz Armen bedenken wollen. Beides aber wäre wieder nur Klientelpolitik und nicht zeitgemäß.

Wer alle Bürger bedenken will, muss strukturelle Änderungen wagen. Die Bundesregierung könnte etwa den ermäßigten Mehrwertsteuersatz um einen Prozentpunkt reduzieren, Waren des täglichen Bedarfs würden für alle erschwinglicher. Wer die absehbaren Mitnahmeeffekte der Nahrungsmittelproduzenten fürchtet, kann auf eine passable Alternative ausweichen - und die Einkommensteuer im Bereich der mittleren Einkommen senken. Davon hätten alle was.

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SZ vom 13.01.2020/vit
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