Süddeutsche Zeitung

Hauptversammlungen:Wenn Aktionäre die Revolte proben

Immer mehr Großinvestoren legen sich dieses Jahr mit den Unternehmenslenkern an. Vor allem in Deutschland sind die Anleger streitlustig. Ein konkreter Fall ist besonders krass.

Von Victor Gojdka

In den Augen vieler Menschen sind Aktionäre wohl nichts als schlipstragende Konformisten. Die Anzugfarben wahlweise steingrau, mausgrau oder kellergrau. Nichts könnte ferner vom Leumund der Aktieninvestoren sein, als im Inneren kleine Revoluzzer zu sein. Doch eine Studie des Beratungsunternehmens Georgeson bestätigt nun genau das: Immer mehr Aktionäre entdecken die Lust an der Revolte. Und wagen auf den Aktionärsversammlungen die offene Konfrontation mit den Unternehmenslenkern.

In Deutschland hat sich auf den Hauptversammlungen die Zahl der umstrittenen Abstimmungspunkte in diesem Jahr drastisch erhöht. 109 Prozent mehr Fälle heftigen Widerspruchs mussten die Unternehmenslenker auf den Aktionärsversammlungen hinnehmen, im Vergleich zum Vorjahr. Mehr als in anderen Ländern. Einen "deutlichen Dissens" konstatiert das Beratungsunternehmen, wenn mehr als zehn Prozent des anwesenden Kapitals gegen einen Vorschlag der Unternehmensleitung stimmten. Allein im deutschen Leitindex Dax bekamen 20 von 30 Firmen solchen Gegenwind zu spüren.

Besonders deutlich merkte das Bayer-Chef Werner Baumann. Auf der Hauptversammlung im April verweigerten mehr als 55 Prozent des abstimmenden Kapitals, Baumann und sein Team zu entlasten. Solch ein Misstrauensvotum gegen den Unternehmenschef? Das hatte es in deutschen Großkonzernen in dieser Form wohl noch nie gegeben. Die Aktionäre waren vor allem sauer, weil Baumann die Risiken der Übernahme des US-Saatgutherstellers Monsanto im voraus offenbar völlig unterschätzt hatte. So wie Baumann ging es auch vielen anderen Managern. Über ihre Entlastung mussten in diesem Jahr 50 Vorstände heftig diskutieren lassen, ein Jahr zuvor waren es lediglich 15 gewesen.

Auch bei der Wahl der Aufsichtsräte meldeten immer mehr große Investoren Kritik an. In 28 Fällen mussten sich Unternehmen in diesem Jahr unangenehme Fragen gefallen lassen, 2018 war das nur in sechs Fällen so. Die Studie der Beratungsgesellschaft zeigt: Immer mehr Großinvestoren lassen ihre Stimmrechte nicht einfach verfallen, sie mischen sich aktiver ein. Auch weil Privatanleger von Fondsgesellschaften zunehmend bei den Aktienexperten nachhaken, wie die denn ihre Stimme hörbar machen und ob sie in den Unternehmen mitreden. Künftig dürften neue Gesetze mehr Einmischung der verlangen. Eines scheint klar: Die Zeiten sozialistischer Mehrheiten auf der Hauptversammlung sind vorbei. Die Faust recken die Investoren nun selbst.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4602695
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 17.09.2019
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.