Er hätte es lieber anders gehabt. "Ich persönlich bedaure es sehr, dass wir die Hauptversammlung wieder digital durchführen müssen", sagt der Siemens-Aufsichtsratsvorsitzende Jim Hagemann Snabe. "Ich hätte mir ein persönliches Treffen gewünscht", einschließlich einer "lebhaften Debatte". Und wie Snabe da so am linken Bildrand steht in seinem dunklen Anzug, dem blauen Hemd und der fest gebundenen blauen Krawatte, wie er in die Kamera schaut, etwas unbeweglich und zwischendurch ein bisschen Mimik andeutet, dann kann man vielleicht doch zu dem Ergebnis kommen: Ja, persönlich wäre wahrscheinlich besser.
Rechts im Bildrand ist ein großer dunkelblauer Hintergrund mit einem Siemens-Logo und vielen kleinen grünen Punkten eingespielt. Ein Bild, von dem man nicht so richtig sagen kann, was es ist. Eine Sternengalaxie? Die Aufnahme eines Computertomografen? Oder vielleicht doch eher abstrakte Kunst? Das Ding bleibt jedenfalls über weite Strecken an der Stelle hängen und das allein zeigt schon, dass es gar nicht so einfach ist, die digitale Hauptversammlung eines Dax-Konzerns zu bebildern und in Szene zu setzen. Keine Live-Zuschaltungen, keine spontanen Meldungen, keine Menschen vor Ort. Jetzt erstmal nur Snabe, der den Ansager gibt. Snabe und die abstrakte Digital-Kunst neben ihm.
Herzlich willkommen bei der virtuellen Hauptversammlung des Siemens-Konzerns, einer Veranstaltung, bei der früher Tausende in die Olympiahalle pilgerten und bei der - von außen betrachtet - nie so ganz klar war, ob hier heute der Siemens-Chef auftritt oder Roland Kaiser oder doch ein paar Leute Sport machen.
Kartoffelsalat mit Würstchen? So eine Naturaldividende gibt es bei virtuellen Hauptversammlungen nicht
Und jetzt das. Zuerst dachte man in den Investorenabteilungen der großen Unternehmen, man könne wegen Covid überhaupt keine Hauptversammlungen mehr machen. Früher standen die Aktionäre alle zusammen. Man trank Kaffee und aß an Stehtischen Weißwürste und Leberkäs mit Brezn, manchmal gab es auch Gulaschsuppen und solche Dinge. "Naturaldividende" nannte man das auch etwas ironisch. Wer bei allen möglichen Unternehmen in seiner Umgebung auch nur ein bisschen investiert war, hatte auf jeden Fall immer was zu essen. Und traf regelmäßig ein paar alte Bekannte.
All das war mit Corona vorbei.
Man verlegte die Hauptversammlungen ins Internet, wo sie jetzt auch bleiben könnten. Denn die neue Bundesregierung plant, auch in Zukunft virtuelle Hauptversammlungen zu erlauben - auch nach dem Ende der Corona-Pandemie. Anfang September erst hatte der Bundestag die Pandemie-Regeln für Hauptversammlungen bis August 2022 verlängert. Der Referenten-Entwurf zur "virtuellen Hauptversammlung", den das Bundesjustizministerium jetzt vorlegte, hat zum Inhalt: Um auch über den August hinaus virtuelle Versammlungen zu ermöglichen, soll das Aktiengesetz geändert werden. "Aus einem coronabedingten Provisorium wird eine dauerhafte Möglichkeit", sagte Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP).
Ein TV-Studio in weiß statt großer Halle
Natürlich geht das. Um einen Anstieg des Quartalsgewinns um 20 Prozent auf 1,8 Milliarden Euro zu melden, den Verkauf der Brief- und Paket-Logistik für 1,15 Milliarden Euro an den Hamburger Maschinenbauer Körber oder die Ausschüttung einer Dividende von vier Euro pro Aktie, braucht man heute keine große Bühne mehr. Von Snabe aus schwenkt die Kamera langsam über den Vorstandschef und seinen Finanzchef, ein großes Fernsehstudio statt Olympiahalle, Interieur-Design-Elemente in strengem Weiß. Nach Snabe steht jetzt Siemens-Chef Roland Busch auf und stellt sich an den Bühnenrand. Der Vorstandschef wird nun zum Conferencier dieser öffentlich-rechtlichen Abendrunde.
Weil eine Hauptversammlung heute mehr ist als Kennzahlen und Dividenden, erzählt Busch jetzt die Geschichten junger Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Die der jungen Frau, die in ihrem Heimatland Ägypten mit am Bahnnetz arbeitet. "Da wollte sie unbedingt mit dabei sein, auch aus persönlichen Gründen", sagt Busch. "Als Ingenieurin kannst Du Ägypten verändern." Oder die Geschichte des jungen Siemens-Auszubildenden aus Amberg und seines Metalldruckers. "Wer den Willen hat, sich weiterzubilden, kann richtig was erreichen bei uns", sagt Busch. Hauptversammlungen sind jetzt auch Storytelling-Events, und Busch ist ein guter Geschichtenerzähler. Das ist der große Unterschied: Früher, als sie noch zu Hunderten und Tausenden in die Olympiahalle strömten, waren sie, die Aktionäre und Eigentümer, die eigentlichen Protagonisten der Veranstaltung. Sie konnten loben und preisen. Aber auch kritisieren, und manchmal ihren Ärger sogar rausbrüllen. Jetzt gibt es Geschichten aus der großen weiten Siemens-Welt.
Einige der Aktionärsvertreterinnen und -vertreter werden per Video eingespielt. Daniela Bergdolt von der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz (DSW) sitzt vor einem einfachen Holztisch, die Hände übereinander, sie spricht ruhig. Es folgen Aktionärsvertreter, die an Schreibtischen sitzen, mit einer Heizung und abgedunkelten Fenstern im Hintergrund. Und Vera Diehl von Union Investment in einem schon beinahe professionell geschnittenen Short Cut. Mal minimalistisch, mal aufwendiger - früher waren sie alle auf der gleichen Bühne. Jetzt macht sich jeder seine eigene.
Und Aufsichtsratschef Snabe sagt: Vielen Dank, das war sehr lebhaft.
Dabei würde ja nicht nur Snabe wieder gerne unter Menschen, auch Aktionärsschützer und Investoren haben sich in den vergangenen Monaten immer wieder gegen die digitalen Treffen ausgesprochen. Ihnen geht es vor allem um die Einschränkung der Rede- und Fragerechte. "Das Mitspracherecht der Investoren wird so massiv geschwächt", warnte schon Ingo Speich von Deka Investment. Früher kamen Aktionäre ans Mikrofon und fragten. Und wenn ihnen die Antworten nicht passten, fragten sie noch mal. Man hatte ja Zeit, acht Stunden, zehn Stunden und mehr, und draußen wartete schon die Naturaldividende in Form von Wiener Würstchen. Jetzt werden Fragen im Vorfeld gesammelt, vorgelesen, beantwortet. Das ist natürlich alles nicht sehr spontan, und zumindest das soll mit der Gesetzesänderung nun verbessert werden. Aktionäre sollen dann eine aktivere Rolle während der Versammlung spielen können.
So eine virtuelle Versammlung ist auf jeden billiger
Man habe diesen Entwurf zur Kenntnis genommen, sagt Siemens-Chef Roland Busch. Und man sei bestrebt, in Zukunft "einen möglichst direkten Dialog zu führen". Was wohl nicht heißen muss, dass es dann wieder in die großen Hallen geht. Im vergangenen Jahr hat die virtuelle Hauptversammlung 1,9 Millionen Euro gekostet, sagt Busch auf Anfrage, auch in diesem Jahr rechne man mit Kosten in dieser Höhe. Onlineservice und Einladung, Licht, Ton und Kamera inklusive. Früher, als Halle und Naturaldividende dazu kamen, war das einiges teurer.
Um 14.46 Uhr erklärt der Aufsichtsratschef Snabe die Frage- und Antworten-Runde für beendet. Es gab Zeiten, da ging es da erst richtig los.
Man kann eh nicht alles virtuell machen aktuell. Zur Hauptversammlung des Konzerns haben einige Hundert Siemensianer auf der Nürnberger Siemensbrücke und vor dem Berliner Dynamowerk gegen die geplante Ausgliederung der Großmotorenproduktion LDA protestiert. So was kann man natürlich auch im Internet machen. Aber als Live-Demo vor Ort hat so etwas wahrscheinlich mehr Charme.