Süddeutsche Zeitung

Hartz IV:Die Mär vom gierigen Arbeitslosen

Die Gesellschaft sollte mehr Empathie gegenüber erwerbslosen Menschen zeigen - auch im eigenen Interesse.

Kommentar von Simon Groß

Das Bild des Hartz-IV-Empfängers wurde wahrscheinlich von keiner einzelnen Person so sehr geprägt wie von Arno Dübel. Der Langzeitarbeitslose tingelte während der 2000er-Jahre durch deutsche Talkshows, wo er entsetzten Gesprächspartnern erklärte, dass er sich mit staatlicher Grundsicherung sehr wohlfühle. Wenn es einen lebenden Beweis dafür brauchte, dass die Schröderschen Hartz-Reformen längst überfällig gewesen waren, Arno Dübel stand parat. Noch 2010 titelte die Bild-Zeitung: "Deutschlands frechster Arbeitsloser - so gammelt er sich durch den Tag". Die Mär vom gierigen, vor-sich-hin-faulenzenden Arbeitslosen, der es sich auf dem Rücken der Arbeitenden bequem macht, sie war längst in der Welt.

Im gleichen Ton schrieb die Bild-Zeitung Ende Juli dieses Jahres von der "Jagd auf Geheim-Vermögen von Hartz-IV-Empfängern", weil die Bundesagentur für Arbeit laut der Zeitung die Auskunftskriterien von Arbeitslosen verschärfen wollte. Als ob es sich um Berge von Kapitalerträgen und Immobilien handeln würde, die die gewieften Hartz-IV-Empfänger vor der öffentlichen Hand versteckten. Nun kam bei einer Prüfung heraus: Nur gut ein Prozent derjenigen, die 2020 tatsächlich zu viel Grundsicherung erhalten hatten, bekamen dies, weil sie Vermögen nicht angegeben hatten. Ein weit größerer Teil hatte Einkommen aus einer geringfügigen oder versicherungspflichtigen Beschäftigung verschwiegen.

Das zeigt: Der Blick auf die Schwachen muss sich dringend ändern. Sie verdienen Mitgefühl und Unterstützung anstelle von Häme und Missgunst.

Die meisten Hartz-IV-Empfänger sind nicht gerne arbeitslos

Anders als es Vorurteile und Zerrbilder glauben machen wollen, sind die meisten Hartz-IV-Empfänger sicherlich nicht gerne arbeitslos. Es sind häufig alleinerziehende Mütter, die mit ihren Kindern versuchen, über die Runden zu kommen. Es sind häufig Menschen mit Brüchen in ihren Biografien, mit Schicksalsschlägen, die sie nicht verwunden haben. Studien zufolge kämpft mehr als jeder dritte Bezieher von Hartz IV mit psychischen Problemen. Ob es die Hartz-IV-Mühle und der ewige Kampf mit den Behörden ist, der ihre psychischen Probleme verursacht hat, oder ob sie diese schon vorher hatten, spielt keine Rolle: Sie verdienen es nicht, als Menschen zweiter Klasse behandelt zu werden - schon allein aus eigenem Interesse: Denn Arbeitslosigkeit und Hartz IV kann fast jeden treffen. Die Corona-Krise hat gezeigt, wie schnell Menschen vollkommen unverschuldet in die Arbeitslosigkeit rutschen können. Die Digitalisierung der Arbeitswelt bringt heute schon Erwerbsbiografien mit zahlreichen Unterbrechungen hervor. Um so wichtiger ist es, gegen die Stigmatisierung von Arbeitslosen anzukämpfen.

In einem Land, in dem die Menschen in der unteren Hälfte der Vermögensverteilung auf ein Prozent des privaten Gesamtvermögens kommen, sollte es jedenfalls die geringste Sorge sein, dass sich die Armen etwas ergaunern. Jährlich verliert der deutsche Staat Dutzende Milliarden Euro an Einnahmen durch Steuerhinterziehung und Steuervermeidung, begangen von Hochvermögenden und international tätigen Konzernen. Darauf sollte ein wohlhabendes Land schauen - und die gerechte und rechtmäßige Beteiligung der Starken am Gemeinwesen sicherstellen.

Natürlich ist es auch wichtig, dass der Staat nicht blind Almosen verteilt. Wer allerdings schon einmal in den Genuss gekommen ist, Wohngeld zu beantragen, der weiß, dass der Fiskus das Geld nicht jedem hinterherwirft, der danach fragt. Menschen, die Unterstützung möchten, müssen alles offenlegen. Ja, Deutschland hat einen gut ausgebauten Sozialstaat, niemand muss hierzulande fürchten, ins Nichts zu fallen, wenn er oder sie den Job verliert - und das ist auch gut so. Aber es darf keine Ausrede dafür sein, Menschen, die diese Unterstützung brauchen, geringzuschätzen.

Übrigens nahm es Arno Dübel später nicht mehr ganz so genau mit der selbst verordneten Arbeitslosigkeit. Als er einen gewissen Bekanntheitsgrad erreicht hatte, ließ er sich Interviews mit Medien bezahlen, hatte einen eigenen Manager. Dübel war zur Kunstfigur geworden. Eine Kunstfigur, auf die die Gesellschaft offenbar gewartet hatte. Sein medialer Erfolg sagt mehr über diese aus, als ihr lieb sein kann.

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