Süddeutsche Zeitung

Hartz IV und das deutsche Wirtschaftssystem:Wer wie viel verdient

Arbeitslose, denen der Staat gerade mal 359 Euro Hartz IV im Monat zuweist. Und Wirtschaftsführer mit 100.000 Euro oder gar einer Million. Ist unser Wirtschaftssystem so organisiert, dass wir ein gutes Gewissen haben dürfen? Was ist zu tun?

Marc Beise

Vielleicht hat es einen tieferen Sinn, dass das Wort Armut weit vorne im Lexikon steht, obwohl sie doch in einem reichen Land unter "ferner liefen" rangieren sollte. Produktion, Investition, Wachstum, Steuern sind die Begriffe, auf die es ankommt, die das große Rad am Rollen halten, das allgemeinen Wohlstand schafft - und doch rangiert Armut weit vor allem. Ein Zufall des Alphabets, gewiss, aber vielleicht auch eine glückliche Fügung. Sie hindert am Wegsehen, zwingt zum Überprüfen: Ist das Wirtschaftssystem so organisiert, dass wir ein gutes Gewissen haben dürfen? Ist es gerecht, ist es sozial? Darf es Armut geben, und wie viel? Was ist zu tun?

Wenn die Welt ein Wunschkonzert wäre, dürfte es natürlich keine Armut geben, und mancher hält alles andere als diesen Idealzustand für einen Skandal. Niemand, nicht einmal der SPD-Volkstribun Sigmar Gabriel, kann sich so konsequent aufregen über die Ungerechtigkeiten der Welt wie die Linken Oskar Lafontaine, Gregor Gysi und Sahra Wagenknecht. Die Wirklichkeit macht es ihnen leicht: Arbeitslose, denen der Staat gerade mal 359 (bald 364) Euro Grundversorgung im Monat zuweist. Arbeitnehmer, die mit 700 Euro netto zu wenig verdienen, um von diesem Job leben zu können. Und Wirtschaftsführer mit 100.000 Euro oder gar einer Million - im Monat.

Exzesse prägen das Gesamtbild

In beiden Lagern, wie auch auf allen Stufen dazwischen, gehen Menschen mit ihren Möglichkeiten unterschiedlich um. Neben vielen Hartz-IV-Empfängern, die sich hartnäckig um den Wiedereinstieg in die Arbeitswelt bemühen, gibt es jene, die sich mit der "Stütze" eingerichtet haben; warum arbeiten, wenn der Staat zahlt? Neben vielen Managern, die ihre Verantwortung für Milliarden-Etats und Zehntausende Mitarbeiter bis an ihre körperlichen Grenzen ernst nehmen, gibt es jene vom "Stamme Nimm", die für ein halbes Jahr Sanierungsarbeit zehn Millionen Abfindung einsacken oder sich für 18 Monate einen lebenslangen Anspruch auf hunderttausend Euro Pension jährlich festschreiben lassen.

Immer sind es Exzesse, die das Gesamtbild prägen. So dumm es ist, "die Manager" pauschal zu verunglimpfen, so dumm ist es, Deutschland im Zustand "spätrömischer Dekadenz" zu sehen, wo Hartz-IV-Empfänger absahnen, was das Zeug hält. Die Frage der Einkommensverteilung in Deutschland ist zu ernst, als dass sie dem Stammtisch überlassen werden dürfte. 359 versus 100.000 Euro - diese Schere wenigstens ein Stück weit zu schließen, ist den Schweiß der Edlen gewiss wert. Die Politik hat dazu auf dem Papier alle Möglichkeiten. Der Gesetzgeber kann, unter Beachtung der verfassungsrechtlichen Vorgaben, Managervergütung steuern, Spitzeneinkommen begrenzen, Boni verbieten. Er kann den Spitzensteuersatz nach oben schieben, bis es schmerzt.

All das ginge - nur ist Deutschland dummerweise keine Insel, und Geld ein flüchtiges Gut. In der globalisierten Welt würden die internationalen Kapitalströme sofort, buchstäblich über Nacht, in andere Staaten und Volkswirtschaften fließen. Eine hochgezüchtete Wirtschaftsmaschinerie wie die deutsche aber braucht Kapital, um die Wirtschaftskraft aufrechtzuerhalten; es muss möglichst viel hier investiert werden und nicht woanders. Darüber hinaus ist Deutschland mit einem System, in dem jeder theoretisch alles erreichen kann, gut gefahren, die Freiheit des Wirtschaftens und eben auch des Einkommens hat viel Wohlstand generiert. Weil aber auch der Kapitalismus ein mangelhaftes System ist, reicht seine Kraft nicht für alle, und je mehr eine Wirtschaft unter Druck gerät, durch internationalen Wettbewerb beispielsweise, desto mehr Menschen kommen nicht mehr mit. In Deutschland gibt es für sie das Wort "Hartz IV".

Auch bei der Organisation des Sozialstaats hat die Politik einen großen Spielraum; nichts ist alternativlos. Der Hartz-IV-Satz kann auf 380, 400, 450 Euro steigen: Es würde Dutzende Milliarden Euro kosten, aber das wäre tatsächlich (nur) eine Frage der Prioritäten. Nicht zuletzt das Bundesverfassungsgericht hat sogar die Pflicht des Staates, für ein menschenwürdiges Existenzminimum zu sorgen, immer wieder und auch im Hartz-IV-Urteil vom Februar 2010 bekräftigt. Es sind vor allem zwei Gründe, die einer Anhebung entgegenstehen; manchmal werden sie bewusst verschwiegen, um Emotionen zu wecken.

359 oder 364 Euro - das ist nicht alles, es kommen Wohngeld und Heizungskosten hinzu, sodass der alleinstehende Langzeitarbeitslose bei 700 Euro liegt, die Hartz-IV-Familie mit zwei Kindern bei 1660 Euro. Davon kann man, mehr schlecht als recht, leben. Anders als früher sind diese Beträge auch nicht willkürlich gesetzt, sondern beruhen auf amtlichen Haushaltsdaten, sind nachvollziehbar begründet, die Argumentation ist transparent. Die Koalition hat versucht, sich an die vom Bundesverfassungsgericht vorgegebene Pflicht zu halten, sauber zu rechnen. So erklären sich die provokativen fünf Euro mehr, die wie eine Verhöhnung der Empfänger anmuten mögen, tatsächlich aber Resultat einer besonderen Korrektheit sind. Es ist eine jener politischen Entscheidungen, die richtig sind, aber kaum zu vermitteln.

Der Gestaltungsspielraum der Politik begrenzt sich auch durch die Einkommen der Niedriglohnbezieher. Es zeigen viele Untersuchungen - und es sagt, wenn man ehrlich ist, auch der Menschenverstand -, dass der Anreiz zur Arbeit sinkt, wenn man ohne fast dasselbe hat oder sogar mehr als mit. Die Ökonomen sprechen vom Lohnabstandsgebot, das höhere Hartz-IV-Sätze verbietet.

Hartz IV und das Lebenselixier

Will man diese Schranke aushebeln, müsste man Mindestlöhne festsetzen, nicht wie bisher nach sorgfältiger Abwägung Branche für Branche, sondern generell. Das aber wäre ein schwerer Eingriff in die Marktwirtschaft, Arbeitsplätze in großer Zahl würden unrentabel und gingen verloren. Man kann sich über die wirtschaftliche Logik politisch hinweg setzen. So wie sich Politik über manche Logik hinwegsetzt, weil es opportun ist. Es wäre aber unwürdig gegenüber den Betroffenen, die lieber für weniger Geld arbeiten als gar nicht.

In der Konsequenz berührt sich die Idee eines flächendeckenden Mindestlohns mit der immer populärer werdenden Idee eines Grundeinkommens. 1000 Euro für jeden, grundsätzlich, das klingt gut und ist doch der falsche Ansatz. Noch ist Arbeit Lebenselixier. Sie ist der Schmierstoff der Wirtschaft, ihren Wert wissen viele erst zu schätzen, wenn sie sie nicht mehr haben. Wer keine Arbeit hat, muss um sie kämpfen - unter konstruktiver Hilfe des Staates.

Hier, nicht bei der Frage des Regelsatzes, liegt die offene Flanke des unfertigen rot-grünen Hartz-IV-Projekts. Der Staat wollte fordern und fördern, aber er fordert viel und fördert wenig. Es braucht keine "Tabubrecher" wie Westerwelle und Sarrazin, sondern viele kluge Ansätze und Anstrengungen für mehr Jobs. Viel zu wenig denkt die Politik darüber nach. Die öffentliche Wutwelle gegen Hartz IV macht es ihr nicht leichter.

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Quelle:
SZ vom 02.10.2010/segi
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