Süddeutsche Zeitung

Sozialgesetzgebung:Hoffnung für Hartz-IV-Empfänger

Ist die vorgeschlagene Hartz-IV-Regelung verfassungswidrig? An diesem Freitag soll der Bundestag die Reform beschließen - doch viele Gerichte erwarten eine Klagewelle gegen das Gesetz.

Thomas Öchsner und Daniela Kuhr

Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) gerät mit ihrer Hartz-IV-Reform weiter unter Druck. Die Sozialgerichte rechnen vom kommenden Jahr an mit einer Flut von Klagen gegen die neu berechneten Hartz-IV-Sätze und das Bildungspaket für arme Kinder. Zugleich wecken die Gesetzespläne der Bundesregierung, über die am Freitag der Bundestag entscheiden soll, verstärkt Zweifel bei Rechtsexperten.

Es wurden mittlerweile so viele verfassungsrechtliche Bedenken erhoben, dass mit Sicherheit eine ganze Reihe neuer Verfahren bei den Gerichten eingehen wird", sagt Hans-Peter Jung, Vorsitzender des Bunds deutscher Sozialrichter der Süddeutschen Zeitung.

Seiner Einschätzung nach werden sie sich sowohl gegen die Höhe der Regelleistungen als auch gegen deren Berechnung richten. Die Bundesregierung schlägt vor, von 2011 an die Sätze für Erwachsene von 359 auf 364 Euro zu erhöhen.

Gleichzeitig plant die Arbeitsministerin ein Bildungspaket für die Kinder von Hartz-IV-Familien und Geringverdienern. Dabei soll es Zuschüsse zum Mittagessen in der Schule und Geld für Nachhilfe oder etwa für Musikstunden geben. Auslöser der Hartz-IV-Reform war das Bundesverfassungsgericht. Es hatte verlangt, die Leistungen bis Ende 2010 neu zu berechnen und Bildungsausgaben für Kinder stärker zu berücksichtigen.

Neue Baustellen in der Gesetzgebung

Skeptisch zeigte sich auch der Präsident des Sozialgerichts Chemnitz, Thomas Clodius. Die geplante Reform trage nicht dazu bei, bestehende Baustellen in der Gesetzgebung zu beseitigen. "Vielmehr kommen jetzt noch neue Baustellen hinzu, weil das äußerst komplexe Gesetz zahlreiche unbestimmte Rechtsbegriffe enthält", sagte er der SZ.

Für unklar hält er vor allem die Regelungen zu den Gutscheinen, die die Jobcenter für die Teilnahme an bestimmten Freizeit- oder Sportangeboten ausstellen sollen. Hier befürchtet Clodius "viele neue Rechtsstreitigkeiten, etwa weil Hartz-IV-Empfänger versuchen, bestimmte Nachhilfeleistungen, Beiträge zu Sportvereinen oder Geld für Musikunterricht einzuklagen".

Die Berliner Justizsenatorin Gisela von der Aue (SPD) sagte: "Die Pläne der Arbeitsministerin werden keinen Rechtsfrieden für Millionen Hartz-IV-Empfänger schaffen." Stattdessen provoziere von der Leyen eine neue Klageflut vor deutschen Sozialgerichten, vor allem wegen des Bildungspakets.

Jobcenter überlastet

In den Jobcentern sind für die Umsetzung des Bildungspakets 1300 zusätzliche Stellen vorgesehen, aber noch nicht besetzt, da dafür die Genehmigung fehlt. Die Bundesagentur für Arbeit rechnet deshalb zunächst mit einer "Mehrbelastung des Stammpersonals". Von der Aue befürchtet, der Personalengpass werde "viele Fehler in den Bescheiden verursachen, die wiederum die Tür öffnen für viele neue Gerichtsverfahren".

Johannes Münder, Professor für Sozialrecht in Berlin, kommt in einem neuen Gutachten für den DGB zu dem Schluss, dass die Neuregelung in weiten Teilen verfassungswidrig ist. DGB-Chef Michael Sommer hat deshalb in einem Schreiben an die Bundestagsabgeordneten angeregt, eine unabhängige Expertenkommission einzuberufen. Diese solle Vorschläge für eine Korrektur der Hartz-IV-Reform machen.

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SZ vom 03.12.2010/pak
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