Hartz IV:So verändert die Agenda 2010 das Leben

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"Uns darf keiner verloren gehen", sagt der neue Chef der Bundesagentur für Arbeit, Detlef Scheele (Foto: dpa)

Deutschland diskutiert über Hartz IV. Wir haben vier Betroffene gefragt, was staatliche Stütze und Jobcenter mit ihnen gemacht haben.

Von Ulrike Nimz

Seit SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz eine Entschärfung der Agenda 2010 angekündigt hat, wird in Deutschland wieder debattiert: über Arbeitslosigkeit und Armut, über Weiterbildung und Würde. Im Wahlkampf entdeckt die Politik die kleinen Leute. Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) will für 100 000 Langzeitarbeitslose ein Beschäftigungsprogramm in Milliardenhöhe auflegen.

Der neue Chef der Bundesagentur für Arbeit, Detlef Scheele, will die Grundsicherung vereinfachen, Bürokratie abbauen und mehr Zeit gewinnen für die Jobvermittlung. "Wir schreiben niemanden ab", sagt Nahles. "Uns darf keiner verloren gehen", sagt Scheele. Und was sagen die Betroffenen? Die Süddeutsche Zeitung hat mit Menschen über ihren Alltag mit der Agenda gesprochen. Entstanden sind Erfahrungsberichte über Chancen und Schwachstellen des Systems Hartz IV.

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Dietmar Kienle, 44, München

Ich bin sehr lange arbeitslos gewesen, schon seit ich im Jahr 2000 nach München gezogen bin. Ich habe nur einen Hauptschulabschluss, meine Ausbildung zum Steinmetz habe ich abgebrochen. Auch als ich ein Zertifikat im Bereich Lagerlogistik gemacht habe, ging es nicht wirklich voran. 120 Bewerbungen, nichts passiert.

Ich habe mich jahrelang mit Tagesjobs über Wasser gehalten. Pflasterer, Maler, Tiefbau. Viel Schufterei, nie was Festes. Dann haben meine Knie nicht mehr mitgemacht. In der OP haben sie mir den Fuß durchgesägt und gerade gestellt. Danach war körperliche Arbeit nicht mehr drin, das Geld noch knapper.

Es ist in jeder Stadt schwer mit Hartz IV. Aber in einer Stadt wie München, und wenn man wie ich mit einer Alkoholsucht zu kämpfen hat, dann ganz besonders. 2014 hat mir mein Fallmanager dann einen Ein-Euro-Job beim Dynamo Fahrradservice Biss e.V. besorgt. Das ist ein Verein, der sich für Leute in Not einsetzt.

(Foto: N/A)

Ich habe schon immer gern rumgeschraubt. Man sagt immer, ein Radl ist eben ein Radl, aber das stimmt nicht. Die Reparatur ist anspruchsvoll. Über ein Programm des Jobcenters bin ich dort jetzt für zwei Jahre fest angestellt. Und trocken bin ich auch. Danach wird man sehen. Mein Ziel ist eine richtige Stelle, also unbefristet.

Mein Betreuer beim Jobcenter will das übrigens auch. Zu den Leuten, die ständig schimpfen, kann ich nur sagen: Ich habe mich dort immer gut aufgehoben gefühlt. Die haben mich nie hängen lassen.

Peter Tonau*, 27, Riesa

Mein Anwalt hat mir davon abgeraten, hier meinen richtigen Namen zu nennen. Er sagt: Wenn ich im Internet lande, kann das meine Jobchancen noch mehr verschlechtern. Ich habe 2006 eine Lehre als Maschinen- und Anlagenführer begonnen. Es war nie mein Traum. Ich wäre lieber zur Polizei gegangen, aber ich habe Asthma. Ich bin nach meiner Lehre von einer Firma übernommen worden, die Heizkörper gebaut hat. Da gab es einen optimalen kollegialen Zusammenhalt.

Ich finde es wichtiger, gute Leute um mich zu haben, als 2500 Euro im Monat zu verdienen. 2010 wurde die Firma nach Tschechien verlagert. Für mich gab es ab da nur noch Zeitarbeit: alle zwei Tage neue Leute, neue Arbeit, sieben Euro die Stunde.

Und dann wird man wegen angeblich mieser Auftragslage gekündigt. Ich also immer wieder hin zum Jobcenter, eine Maßnahme nach der anderen haben die mir reingedrückt. Meine erste war bei einem sozialen Verein. Das hat mir beruflich nichts gebracht, aber ich bin dort gern hingegangen. Später schickten sie mich als Ausgelernten in eine Jugendwerkstatt. Statt etwas Handwerkliches zu machen, sollten wir Monopoly spielen.

Zu einer anderen bin ich mit dem Auto hin, und man fragte mich als Erstes, was mir einfällt, ohne Führerschein zu fahren. Da merkte ich: Das ist eine Maßnahme für Alkoholabhängige. In einer kalten Halle haben da alte Leute endlos Holzklötze gefeilt. Auf meine Frage, was das soll, habe ich keine Antwort bekommen. Ich bin dann abgehauen, und das Jobcenter hat mir die Bezüge gekürzt, um 30 Prozent. Erst als ich geklagt habe, haben die das zurückgenommen.

Nicht falsch verstehen: Ich finde Hartz IV nicht nur schlecht. Dass man sich bewerben und das auch nachweisen muss, ist richtig. Aber diese Sinnlos-Maßnahmen sind der blanke Hohn.

*Name geändert

Wieland Kerschner, 61, Hamburg

Von Haus aus bin ich Großhandelskaufmann für Sanitärtechnik, aber in dem Job konnte ich nie Fuß fassen. Ich habe sogar Rechtswissenschaften studiert, aber das Examen versägt. Ich war 15 Jahre arbeitslos, davon vier Jahre so richtig. Den Rest habe ich in Ein-Euro-Jobs zugebracht, mich allerdings immer selbst darum gekümmert, dass die auch Sinn machen. Man darf nicht erwarten, dass einem Gutes von allein passiert.

(Foto: N/A)

Ich habe an der juristischen Fakultät Bücher einsortiert, Kataloge korrigiert. Ich habe im Herbarium Pflanzen ins Datennetz eingepflegt. Das hat mir alles Spaß gemacht. Ohne diese Jobs hätte ich keine Perspektive gehabt. Jetzt arbeite ich in der Antiquariatsbuchhandlung in der Rathauspassage Hamburg. Dort hat man immer auch Langzeitarbeitslose angestellt.

Mittlerweile habe ich einen 25-Stunden-Arbeitsvertrag. Auch weil ich immer signalisiert habe: Ich werde hier nicht ehrenamtlich arbeiten. Das ist etwas für Leute mit viel Geld.

Nebenbei arbeite ich noch für die SPD. Ich bin seit 30 Jahren Mitglied. Zur Agenda 2010 habe ich ein gespaltenes Verhältnis. Es war sinnvoll, Arbeitslosengeld II und Sozialhilfe zusammenzulegen. Dass man Vermögen nachweisen muss auch. Wenn ich Geld vom Staat will, dann muss ich mit offenen Karten spielen.

Das Problem ist, dass die Jobcenter verwalten statt zu vermitteln. Dort und bei den verschiedenen Trägern arbeiten Sozialpädagogen und keine Headhunter. Die haben keine Kontakte zu Unternehmen, und die meisten Firmen nehmen Qualifizierungsmaßnahmen sowieso nicht ernst. Leute mit guter Ausbildung, Akademiker, die profitieren kaum von Weiterbildungen. Ich habe mal eine in SAP gemacht, weil ich gern zu Airbus wollte. Von den 30 Leuten, die in dieser Schulung gesessen haben, hat meines Wissens keiner einen Job bekommen, in dem er das Gelernte gebraucht hätte.

Jessica Kreft, 32, Hagen

(Foto: N/A)

Als ich noch zur Schule ging, wurde bei mir ein Hirntumor festgestellt, gutartig, Gott sei Dank. Aber er musste operiert werden. Danach habe ich sehr lange gebraucht, um wieder fit zu werden, musste viele Dinge neu lernen. In der Schule hat mich das natürlich zurückgeworfen. Ich habe dann meinen Realschulabschluss nachgeholt, aber für das Fachabitur hat es nicht gereicht. Meine Ausbildung in einer Schreinerei gefiel mir aber. Ich mag es, mit Holz zu arbeiten.

Mein Gesellenstück ist ein Bücherregal mit Einlegeböden aus Glas. Trotzdem habe ich anschließend mehrere Jahre keinen Job gefunden. Ich habe viele Maßnahmen machen müssen. In einer habe ich es nur drei Tage ausgehalten. Es ging um die Arbeit mit Metall, aber viele der Leute dort hatten Drogenprobleme und sind auch oft ausgerastet, haben mit Stühlen um sich geworfen, solche Sachen.

Da ich eine Betreuerin an meiner Seite habe, sind Formulare und die Termine beim Amt nie mein Hauptproblem gewesen. Mich hat eher gestört, dass man auf die meisten Bewerbungen nicht einmal eine Antwort bekommt. Im Moment arbeite ich bei den Möbelpiraten, einem Einrichtungsgeschäft, über eine Eingliederungsmaßnahme für Menschen mit Behinderung. Die ist auf ein Jahr befristet, das Jobcenter zahlt einen Teil des Gehalts. Mit den Plänen von Politikern beschäftige ich mich nicht sonderlich. Man muss selbst sehen, wo man bleibt .

© SZ vom 11.04.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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