Seit Beginn des Hartz-IV-Systems vor fast 14 Jahren stehen die Begriffe "Fördern und Fordern" im Mittelpunkt. Unter "Fordern" fällt das Sanktionssystem: Hält sich ein Empfänger nicht an die Regeln, kürzt das Jobcenter dessen finanzielle Bezüge. Die Bundesagentur für Arbeit äußert sich diesen Mittwoch zum aktuellen Stand der Entwicklungen, auf ihrer Internetseite steht, dass sie zwischen Juni 2017 und Mai 2018 insgesamt 950 000 Sanktionen ausgesprochen hat. Dabei ist nur ein geringer Anteil der mehr als vier Millionen Leistungsbezieher betroffen, viele der Sanktionierten trifft es also mehrfach.
Die Soziologin Dorothee Spannagel, 38, beschäftigt sich im Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut der Hans-Böckler-Stiftung, die zum Deutschen Gewerkschaftsbund gehört, unter anderem mit dem Hartz-IV-System und stellt den Sinn der Sanktionen in Zweifel.
SZ: Frau Spannagel, was halten Sie von Sanktionen gegen Hartz-IV-Bezieher?
Dorothee Spannagel: Der Hartz-IV-Satz ist das sozialrechtlich garantierte Existenzminimum, es orientiert sich am Sozialhilfesatz. Der Staat definiert hier ein Einkommen, das man mindestens braucht, um an dieser Gesellschaft aktiv teilhaben zu können. Das in manchen Fällen zu kürzen, halte ich für extrem problematisch. Die Leute werden an den Rand gedrängt und marginalisiert. Sie kriegen zum Teil Lebensmittelgutscheine. Das ist ein Armutszeugnis für diese Gesellschaft.
Warum stehen die Sanktionen in der Politik dennoch kaum zur Debatte?
Weil man sich dann mit dem ganzen System auseinandersetzen müsste. Dann würde man sehen, dass eine Gruppe von Menschen da einfach nicht reinpasst. Hartz IV war nie darauf ausgelegt, dass sich Menschen länger darin aufhalten. Sondern schnell wieder in Arbeit gelotst werden. Bei manchen ist das aber nicht möglich. Diese Gruppe ist stark von den Sanktionen betroffen. Darunter fallen etwa Geringqualifizierte und Menschen mit gesundheitlichen oder familiären Problemen. Für sie brauchen wir öffentlich geförderte Beschäftigung.
Auch Migranten werden vergleichsweise häufig sanktioniert.
Das Hartz-IV-System ist hoch komplex. Das ist für viele deutschsprachige Antragsteller nicht einfach, für Migranten oft ungleich schwerer. Das betrifft einerseits die Bürokratie, andererseits auch das kulturelle Verständnis für amtliche Vorgänge. Deshalb erhalten sie häufig Sanktionen. Dies ist aber kein Zeichen dafür, dass Migranten weniger motiviert sind, eine Arbeit zu finden. Sondern dass sie besonders viel Unterstützung brauchen.
Mehr als 700 000 der 950 000 Sanktionen entfallen auf das sogenannte Meldeversäumnis. Also darauf, dass ein Hartz-IV-Empfänger zu einem Termin im Jobcenter nicht erscheint. Wie ist das zu erklären?
Ein Grund ist vermutlich, dass es dafür eine recht milde Strafe gibt. Beim ersten Fall werden zehn Prozent der Leistungen gekürzt. Den Mitarbeitern in den Jobcentern fällt es leichter, eine solche Strafe auszusprechen, als wenn sie einem die gesamte Leistung oder das Wohngeld streichen sollen. In Einzelfällen können solche Strafen auch sinnvoll sein. Aber generell wird dadurch das Jobcenter von den Arbeitssuchenden nicht mehr als Partner wahrgenommen.
Warum werden die Jungen besonders hart bestraft? Bei einer erstmaligen Pflichtverletzung kann der Hartz-IV-Bezug von unter 25-Jährigen komplett gestrichen werden, beim zweiten Mal auch die Kosten für Unterkunft und Heizung.
Ich denke, der Gesetzgeber verfolgt hier eine pädagogische Idee und hofft auf einen schnellen Lerneffekt. Aber das hat eher den gegenteiligen Effekt, die jungen Menschen werden verschreckt. Das funktioniert nicht.
Wie stark ist durch die Sanktionen der Druck auf Hartz-IV-Empfänger, sich an die Regeln zu halten und schnell einen neuen Job zu suchen?
Das hängt vom Einzelfall ab: In welcher finanziellen Situation lebt jemand? Für manche kann eine zehnprozentige Kürzung existenziell sein. Andere können das über Familie oder Freunde auffangen. Generell aber steckt hinter dem Sanktionssystem ein falsches Menschenbild: Die Allerwenigsten begehen Regelverstöße, weil sie nicht arbeiten wollen. Man unterstellt den Menschen, dass sie in einer sozialen Hängematte leben wollen. Aber aus Studien weiß man, dass das in den allerseltensten Fällen eine Rolle spielt.
Studien besagen aber auch, dass Hartz-IV-Empfänger durch die Sanktionen bewegt werden, schneller wieder einen Job anzunehmen.
In diesen Jobs verdienen sie aber häufig wenig und oft entsprechen die Jobs nicht ihrer Qualifikation. Das führt dazu, dass die Aufstocker-Quoten steigen, die sogenannte Erwerbsarmut. Die Menschen sind dann nicht mehr Hartz-IV-Bezieher, weil sie arbeitssuchend sind, sondern weil sie ihren Lohn aufstocken müssen.
Was wäre Ihr Vorschlag?
Wir müssen stärker fördern. Hier muss sehr viel mehr passieren. Beratung und passgenaue Angebote müssen sich für den konkreten Einzelfall verbessern. Das ist für die Jobcenter aber personell und finanziell aufwändig.