Süddeutsche Zeitung

Hartz IV:Das Urteil der Verfassungsrichter ist ein Auftrag zur Reform

  • Wer sich mit dem Jobcenter wegen Sanktionen auseinandersetzt, kann sich ab sofort auf das Karlsruher Urteil berufen.
  • Die Richter begrenzen die Kürzungen auf 30-Prozent und sehen so immer noch eine "gewisse Lenkungswirkung" als gegeben.

Von Wolfgang Janisch, Karlsruhe

Man attestiert dem Bundesverfassungsgericht bei solchen Gelegenheiten gern die Fähigkeit zur salomonischen Lösung, und tatsächlich ließe sich dieses Fazit auch dieses Mal durchaus rechtfertigen. Der Erste Senat unter seinem nun nicht mehr so neuen Vorsitzenden Stephan Harbarth hat den Konflikt um die Hartz-IV-Sanktionen ganz elegant gelöst. Auf der einen Seite behält das Jobcenter sein Disziplinierungsinstrument, mit dem es Arbeitsvermeider auf Trab bringen möchte; es darf Leistungen kürzen, wenn jemand nicht mitzieht. Auf der anderen Seite hat Karlsruhe die schlimmsten Grausamkeiten aus dem Werkzeugkasten der Arbeitsvermittler entfernt, die Kürzungsmöglichkeit um 60 oder gar 100 Prozent. Ebenso die Starrheit der Sanktionen, die es schwierig machte, flexibel auf familiäre Notsituationen oder Krankheit zu reagieren.

Eine salomonische Lösung? Schaut man genauer hin, dann ist das 74-Seiten-Urteil eher ein halber Gesetzentwurf. Beim sogenannten Arbeitslosengeld II, wie Hartz IV richtig heißt, bleiben Kürzungen um 30 Prozent grundsätzlich zulässig, wenn jemand ein zumutbares Jobangebot ausschlägt. Zugleich darf die Kürzung aber kein Automatismus sein, da korrigieren die Richter das Gesetz: Dem Betroffenen muss die Möglichkeit eingeräumt werden darzulegen, dass die Kürzung eine "außergewöhnliche Härte" wäre. Außerdem gilt der Abschlag nicht mehr zwingend für drei Monate. Das Verhängnis kann abwenden, wer doch noch einlenkt - dann kriegt er von morgen an wieder Geld.

60-prozentige Kürzungen für Wiederholungstäter sind laut Gericht unzulässig, 100-prozentige sowieso, schon gar, wenn auch noch Heizung und Wohnung gestrichen werden soll. Viele Einzelheiten also, die das Gericht schon jetzt regelt, hinzu kommen weitere Vorgaben bis ins Detail. So sollen die Jobcenter häufiger als bisher ihre Klienten persönlich anhören, wenn es gilt, einen "wichtigen Grund" für deren Versäumnisse ausfindig zu machen - Krankheit, familiäre Probleme, solche Dinge.

Die Menschen einfach nur auf schriftliche Eingaben zu verweisen, reicht oft nicht, sagt das Gericht. Da bleibt Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) - wenn er nicht ein völlig neues Modell schaffen möchte - nicht so furchtbar viel Spielraum. Der Erste Senat will seine eigene Übergangsregelung zudem unbefristet weitergelten lassen, sollte der Gesetzgeber keine eigene Lösung hinbekommen. Das zeugt nicht unbedingt von großem Vertrauen in die Reformfähigkeit der Politik; ihr Scheitern ist im Urteil bereits eingepreist. Ab wann das Ganze gilt? Sofort, unverzüglich. Wer derzeit noch mit dem Jobcenter wegen einer 60-Prozent-Kürzung im Clinch liegt, der kann sich direkt auf Karlsruhe berufen.

Wer mit dem Jobcenter im Clinch liegt, kann sich sofort auf Karlsruhe berufen

Das Gericht hat bereits zum dritten Mal seit seinem Grundsatzurteil von 2010 ausbuchstabiert, was das große Versprechen der Menschenwürde in Zeiten der Arbeitslosigkeit wert ist. Aus dem damaligen Urteil stammt der Anspruch auf ein Existenzminimum, das zwar nicht in Euro und Cent festgelegt ist, aber doch nach einem nachvollziehbaren Verfahren berechnet werden muss - und eben nicht nur Essen und Wohnung, sondern auch "soziokulturelle" Bedürfnisse abdeckt.

Davon macht das Gericht auch in der jetzigen Entscheidung, die von Susanne Baer als "Berichterstatterin" vorbereitet worden ist, keine Abstriche. Dass die Leistungen gleichwohl unter das Minimum abgesenkt werden dürfen, wenn Arbeitslose zumutbare Angebote ausschlagen, rechtfertigt das Gericht mit dem "Nachrangprinzip": Wer erwerbsfähig ist, muss zuerst alle Möglichkeiten ausschöpfen, um seine Hilfsbedürftigkeit selbst abzuwenden. Das staatliche Netz wird erst aufgespannt, "wenn Menschen ihre Existenz nicht vorrangig selbst sichern können", heißt es in dem Urteil. Die Botschaft lautet also: Qualifizierungsmaßnahmen akzeptieren und Jobs annehmen.

Zugleich überzieht das Gericht das gesamte System mit einer strikten Verhältnismäßigkeitsprüfung, die umso strenger ausfällt, je stärker Leistungen gekürzt werden sollen. Das Urteil lässt keinen Zweifel daran, dass auch eine Kürzung um 30 Prozent eine "harte Belastung" für die Betroffenen darstellt. Der Senat zitiert eine Berechnung, wonach ihnen neben Nahrung, Kleidung und Energie während der drei Kürzungsmonate nur ein Tagesbudget von einem Euro bleibe. Wer Menschen auf dieses finanzielle Niveau drücken will, muss sehr gute Gründe vorweisen können.

Bei 30-Prozent-Kürzungen sieht der Senat eine "gewisse Lenkungswirkung"

Verhältnismäßigkeit ist daher ein Begriff mit sehr konkreten Folgen. Das Verfassungsgericht will sich im Jahre dreizehn der Verschärfung der Hartz-IV-Regeln nicht mehr damit begnügen, dass der Gesetzgeber seine Sanktionen schon für irgendwie tauglich hält. Es will sich auch nicht damit abspeisen lassen, dass die Forschungslage zur Wirkung der Sanktionen immer noch recht dünn ist, obwohl doch im Sozialgesetzbuch II eine regelmäßige und zeitnahe Untersuchung der Tauglichkeit von Hartz IV versprochen worden war.

Verhältnismäßigkeit, das heißt in der Sprache der Richter: Ja, ihr dürft notfalls auch die Leistungen für die Ärmsten der Armen kürzen - aber wirklich nur dann, wenn belegt ist, dass dies einen Ausweg aus der Arbeitslosigkeit bietet und damit zur Überwindung der Armut dient. Das große Ziel kann die Durststrecke rechtfertigen, jedoch nur, wenn es wirklich erreichbar ist. Bei den härtesten Sanktionen fehlt indes auch nur die Ahnung eines solchen Nachweises, im Gegenteil: "Die Erfolgsquote ist teilweise sehr begrenzt", heißt es im Urteil. Nur bei den 30-Prozent-Kürzungen erkennen die Richter eine gewisse "Lenkungswirkung". Aus Sicht der Jobcenter handle es sich um ein "wichtiges Instrument, um auf die Mitwirkungsbereitschaft der Betroffenen an der Überwindung ihrer Hilfebedürftigkeit hinwirken zu können".

Der Reformauftrag an Minister Heil lautet also, das Sanktionensystem einmal sehr genau auf seine Wirkung hin untersuchen zu lassen. Der Slogan "Fördern und Fordern" ist zwar eingängig, aber eben auch sehr schlicht. Die Karlsruher Verhandlung im Januar hatte gezeigt, dass gerade bei schwierig zu vermittelnden Gruppen von Arbeitslosen aus dem "Fordern" schnell ein "Überfordern" wird, das prekäre Verhältnisse eher zementiert als auflöst. Heil hat nach der Verhandlung gesagt, im Urteil liege eine "Chance". Das wäre sie.

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SZ vom 06.11.2019/mxh
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