Hartz IV:Ein Urteil und viele Fragen

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Künftig erhalten die Mitarbeiter eines Jobcenters mehr Spielraum, um außergewöhnliche Härten zu vermeiden. (Foto: picture alliance / dpa)

Die Karlsruher Entscheidung zu Sanktionen für Hartz-IV-Bezieher lässt einige Punkte offen. Wer profitiert nun konkret? Und sind Total-Sanktionen doch noch möglich? Antworten auf die wichtigsten Fragen.

Von Hans von der Hagen

Viele Hartz-IV-Empfänger bekommen weniger Geld als ihnen eigentlich zusteht. Der Grund sind Sanktionen, die von Jobcentern verhängt wurden. Doch an dieser Praxis könnte sich bald etwas ändern: Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass Kürzungen über 30 Prozent hinaus verfassungswidrig sind. Doch wer profitiert nun? Und was sollen Hartz-IV-Bezieher machen, wenn sie schon einen Bescheid erhalten haben? Ein Überblick.

Was haben die Richter entschieden?

Arbeitslose, die älter sind als 25 Jahre und Hartz-IV-Leistungen beziehen, dürfen künftig nicht mehr so stark sanktioniert werden. Sanktionen werden verhängt, wenn Erwerbslose etwa Jobangebote ausschlagen oder sich weigern, an Fördermaßnahmen teilzunehmen. Existenzbedrohende Kürzungen von 60 oder gar 100 Prozent der Hartz-IV-Leistungen bei Regelverstößen wird es nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts wohl nicht mehr geben. Sanktionen bis zu 30 Prozent der Regelleistung können allerdings weiterhin verhängt werden. Das Bundesverfassungsgericht hat festgelegt, dass das Urteil sofort umzusetzen ist.

Wie wurde das Urteil begründet?

Es ist überhaupt nicht klar, ob Sanktionen wirklich helfen, Hartz-IV-Bezieher wieder in Arbeit zu bringen. Darum ist es aus Sicht der Richter auch nicht mit der Verfassung zu vereinbaren, die Hartz-IV-Leistung, also das menschenwürdige Existenzminium, zu kürzen.

Was ist mit Hartz-IV-Empfängern, die jünger als 25 Jahre sind?

Für Arbeitslose unter 25 Jahren sind besonders rigide Sanktionen vorgesehen: Ihnen können bereits beim ersten Regelverstoß 100 Prozent der Leistungen gestrichen werden. Der Gesetzgeber erhofft sich dadurch wohl einen besonderen Erziehungseffekt. Das Gericht erwähnte diese Altersgruppe nicht direkt, es heißt lediglich, dass Bescheide über Sanktionen, die noch nicht bestandskräftig sind und die über 30 Prozent hinausgehen, aufzugeben sind. Aus Gründen der Gleichbehandlung ist davon auszugehen, dass es auch bei unter 25-Jährigen zu ähnlichen Änderungen kommen wird. Sicher ist das allerdings erst, wenn die Arbeitsagentur eine entsprechende Anweisung an die Jobcenter herausgibt.

Ändert sich auch etwas bei den übrigen Sanktionen?

Bislang war es so, dass bei Regelverstößen per Gesetz ein Automatismus in Gang kam: Sanktionen mussten verhängt werden und zwar fest für drei Monate - auch, wenn bereits außergewöhnliche Härten vorlagen. Künftig erhalten die Mitarbeiter eines Jobcenters mehr Spielraum und damit die Möglichkeit, etwa in Krankheitsfällen oder anderen Notsituationen von Sanktionen abzusehen, um außergewöhnliche Härten zu verhindern oder nicht noch weiter zu verschlimmern. Zudem hat das Gericht angeordnet, dass vor Erlass einer Sanktion der Betroffene nicht nur schriftlich angehört wird, sondern auch mündlich.

Sind Totalsanktionen auch weiterhin noch möglich?

In dem Urteil gibt es einen Passus, der Juristen irritiert: Er deutet darauf hin, dass Sanktionen in Höhe von 100 Prozent zumindest theoretisch möglich sind. Im Gesetz heißt es: "Wird eine (...) existenzsichernde und (...) zumutbare Erwerbstätigkeit ohne wichtigen Grund ... willentlich verweigert, obwohl im Verfahren die Möglichkeit bestand, dazu auch etwaige Besonderheiten der persönlichen Situation vorzubringen, die einer Arbeitsaufnahme bei objektiver Betrachtung entgegenstehen könnten, ist (...) ein vollständiger Leistungsentzug zu rechtfertigen." Wie allerdings der Passus genau zu deuten ist, ist noch unklar. Manche Rechtsexperten vermuten, dass es sich bei diesem Satz eher um eine Maßgabe an den Gesetzgeber handelt, die bei einer Neuformulierung des Gesetzes von Bedeutung sein könnte.

Was ist, wenn ein Sanktionsbescheid bereits erteilt ist?

Bei Bescheiden, die bereits bestandskräftig sind, gibt es gemäß dem Urteil des Verfassungsgerichts keine Änderungen. Anders dürfte es bei Bescheiden sein, bei denen die Widerspruchsfrist von einem Monat plus Postweg nicht abgelaufen ist: Hier könnte es nach Ansicht von Rechtsexperten möglich sein, mit Verweis auf das Urteil des Verfassungsgerichts Widerspruch einzulegen.

Was sagt Bundesarbeitsminister Hubertus Heil zu dem Urteil?

Heil sprach nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von einem "weisen, ausgewogenen Urteil". Es "biete eine Chance auf gesellschaftliche Befriedung und gebe Rechtssicherheit in der 15-jährigen Debatte". Er sah in dem Urteil die Aufforderung des Gerichts, bei der Verhängung von Sanktionen die Verhältnismäßigkeit zu wahren. "Wir müssen den Ton des Sozialstaats weiterentwickeln."

Welche Pläne hat er, die Grundsicherung neu zu gestalten?

Ende September stellte Heil Eckpunkte des sogenannten Reformpakets Grundsicherung vor. Darin werden einige wesentliche Änderungen angedeutet. Es soll etwa einen anderen Umgang mit Unterkunftskosten geben. Derzeit gilt: Rutscht jemand in Hartz IV und liegt mit seinen Kosten für die Miet- oder Eigentumswohnung über dem vorgegebenen Rahmen, erhält er eine Aufforderung, die Kosten für die Wohnung zu senken. Er hat dann sechs Monate Zeit, sich notfalls eine neue Wohnung zu suchen. Künftig würde ein Hartz-IV-Bezieher in den ersten beiden Jahren in Ruhe gelassen werden. Weiterer wichtiger Punkt: Kinder sollen eine eigene Grundsicherung bekommen, sie hätten dann einen eigenen Anspruch auf Geld - nicht nur im Rahmen der sogenannten Bedarfsgemeinschaft mit den Eltern. Zu diesem Zweck soll es ein neues Kindergeld von bis zu 389 Euro je Kind geben, in dem das bisherige Kindergeld und der Kinderzuschlag zusammengeführt werden. Hinzu kommen die Ansprüche aus dem Bildungs- und Teilhabepaket.

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