Im deutschen Sozialrecht gibt es einen Grundsatz, der ziemlich einleuchtend klingt: Ein Mensch, der arbeitet, soll mehr Geld zur Verfügung haben als jemand, der nichts tut oder nichts tun kann, weil er arbeitslos ist. Ökonomen nennen dies das Lohnabstandsgebot. Sollte die Bundesregierung auf Grund des Urteils des Bundesverfassungsgerichts in Zukunft die Hartz-IV-Sätze erhöhen, wird dieses Gebot jedoch weiter untergraben. Die schwarz-gelbe Koalition hätte ein zusätzliches Problem. Und das zu lösen, dürfte sehr teuer kommen.
Steigen die Regelleistungen für Hartz-IV-Empfänger, könnten Geringverdiener ins Grübeln kommen, vor allem, wenn sie gleich mehrere Familienmitglieder ernähren müssen. Viele von ihnen haben schon jetzt netto kaum mehr als ein vergleichbarer Hartz-IV-Empfänger.
Dieser Abstand würde sich durch eine Anhebung der staatlichen Grundsicherung weiter verkleinern. Es gibt aber noch einen weiteren Effekt: Jeder Arbeitnehmer kann sich seinen niedrigen Lohn bis zum garantierten Existenzminimum vom Staat aufstocken lassen.
Schon jetzt gibt es 337.000 Arbeitnehmer, die mehr als 800 Euro brutto verdienen und zusätzlich Hartz IV beziehen. Erhöht sich nun das Existenzminimum auf Grund der Neuberechnung der Hartz-IV-Sätze, wird nicht nur die Zahl dieser "Aufstocker" steigen.
Zugleich haben diejenigen, die bereits aufstocken, womöglich einen Anspruch auf höhere staatliche Leistungen. Da sind sich die Experten des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft, Holger Schäfer, und des Deutschen Gewerkschaftsbundes, Wilhelm Adamy, ausnahmsweise einig.
"Stark negativen Arbeitsanreizen"
Umstritten ist aber, welche Folgen das Schrumpfen des Lohnabstands hat. Für die meisten Ökonomen ist der Fall klar: Klettern die Hartz-IV-Sätze, lohnt sich die Arbeit für Geringverdiener immer weniger. "Wenn ich Nicht-Arbeit attraktiver mache, schrumpft der Arbeitsanreiz", sagt Schäfer.
So sieht es auch das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg. Dort sprechen Forscher von "starken negativen Arbeitsanreizen". Sie rechneten aus, dass bei einer Erhöhung der Regelsätze von zum Zeitpunkt ihrer Untersuchung 351 Euro auf 420 Euro sich 200.000 Menschen vom Arbeitsmarkt zurückziehen würden, weil sich Arbeit für sie nicht mehr lohnt.
DGB-Experte Adamy warnt dagegen davor, das Lohnabstandsgebot zu überschätzen. Er verweist darauf, dass Menschen nicht nur wegen des Geldes arbeiten gehen. Außerdem gebe es ja keine Wahlfreiheit zwischen Arbeit und Nichts-Tun. Schließlich müssten Hartz-IV-Empfänger Arbeitsangebote annehmen, sonst drohten ihnen Leistungskürzungen.
Sicher ist: An einem schrumpfenden Lohnabstand etwas zu ändern, dürfte der Regierung schwer fallen. Die Hartz-IV-Sätze herunterzusetzen und die Hinzuverdienst-Möglichkeiten zu verbessern, wie dies manche Ökonomen fordern, ist nach dem jüngsten Urteil ausgeschlossen.
Ein höheres Kindergeld, um die verfügbaren Einkommen der Geringverdiener-Familien zu erhöhen, würde den Staat viele Milliarden kosten. Einen flächendeckenden Mindestlohn lehnt die schwarz-gelbe Koalition vehement ab. Und die Senkung der Sozialabgaben, damit netto vom Bruttolohn mehr übrigbleibt, kommt angesichts der riesigen Defizite in der Kranken- und Arbeitslosenversicherung auch nicht in Frage.