Süddeutsche Zeitung

Arbeitslosengeld II:Hartz-IV, ein bürokratisches Monster?

  • Die Verwaltung von Hartz-IV ist extrem aufwendig. Jeder zweite Mitarbeiter in den Jobcentern ist ausschließlich mit der Berechnung staatlicher Leistungen beschäftigt.
  • Ein CDU-Sozialpolitiker spricht sich für eine stärkere Digitalisierung in der Verwaltung aus. In der Arbeitsagentur ist man skeptisch, ob das gelingen kann.

Von Thomas Öchsner, Berlin

Als die rot-grüne Bundesregierung mit der Agenda 2010 die staatliche Grundsicherung (Hartz IV) einführte, hatte sie eine naheliegende Idee: Die Regierung wollte Schluss machen mit den vielen Einzelanträgen in der Sozialhilfe und dem komplizierten Berechnen von einzelnen Leistungen. In einer Pauschale, derzeit 409 Euro pro Monat für einen Alleinstehenden, sollte alles drin sein.

Die Reformer waren aber wohl zu optimistisch: Tatsächlich hat sich auch das Hartz-IV-System zu einem "bürokratischen Monster" entwickelt. So sieht es zumindest Heinrich Alt, bis 2015 Vorstandsmitglied in der Bundesagentur für Arbeit (BA) und jetzt im Ruhestand. In einem Gutachten für die Friedrich-Naumann-Stiftung weist er darauf hin, dass der Versuch, die Gewährung von Leistungen in der Grundsicherung zu vereinfachen, sich leider ins Gegenteil verkehrt habe. Viele fein ziselierte gesetzliche Normen und der Hang zur Einzelfallgerechtigkeit hätten "zu mehr Bürokratie und Aufwand" und "Monsterbescheiden" mit bis zu 200 Seiten geführt, schreibt Alt und zählt auf: Zwei von drei Hartz-IV-Bescheiden haben mehr als 20 Seiten. Die Akte eines Hartz-IV-Haushaltes umfasst im Durchschnitt 650 Blatt. Bei 25 Millionen Bescheiden im Jahr hat es 2016 etwa 640 000 Widersprüche und 115 000 Klagen gegeben.

Der frühere BA-Manager empfiehlt deshalb, die Grundsicherung stark zu vereinfachen. Dafür erhält er nun Beistand aus dem Bundestag. Der CDU-Sozialpolitiker Kai Whittaker schlägt vor, mehr mit Pauschalen zu arbeiten und die Jobcenter konsequent zu digitalisieren. "Die Leistungsberechnung ist lediglich ein mathematisches Regelwerk, ein Algorithmus, nachdem sich exakt berechnen lässt, wie viel Geld einem Hartz-IV-Empfänger zusteht", sagte er der Süddeutschen Zeitung. Geschehe dies automatisch, könnte ein Großteil der 20 000 Mitarbeiter von dieser Pflicht befreit werden. Diese ließen sich dann als Arbeitsvermittler einsetzen, so dass in den Jobcentern alle Mitarbeiter mehr Zeit dafür hätten, Langzeitarbeitslose zu betreuen. Derzeit berechnet etwa jeder zweite Mitarbeiter in den Jobcentern Leistungen. Dabei sollte dies, so die Vision der Agenda-2010-Reformer, nur jeder fünfte tun.

Whittaker, der für die CDU im Arbeits- und Sozialausschuss sitzt, plädiert für ein "Online-Jobcenter". Er sieht bis dahin aber noch einen weiten Weg. Dies liege auch daran, dass nur jeder zweite Bürger bislang mit den Behörden über das Internet kommuniziere. Deutschland hinke damit der Schweiz und Österreich und erst recht dem digitalen Musterstaat Estland weit hinterher. "Es fehlt eine harmonisierte Dateninfrastruktur, eine nützliche elektronische Identität, eine verpflichtende elektronische Akte und ein besserer Datenaustausch zwischen den Behörden", sagte er.

Auch der neue Chef der Bundesagentur für Arbeit, Detlef Scheele, hält eine Reform von Hartz IV nach der Bundestagswahl für notwendig. Doch in Sachen Digitalisierung sieht er die Arbeitsbehörden unter den Verwaltungen in Deutschland schon jetzt an der Spitze. Bei den Arbeitsagenturen gebe es schon jetzt eine elektronische Aktenhaltung. Arbeitslose könnten dort ihre Anträge "heute schon elektronisch stellen", sagte der BA-Chef der SZ. Und in den Jobcentern werde die elektronische Akte gerade schrittweise eingeführt, auch, um mehr Zeit für die Hartz-IV-Empfänger zu haben. Außerdem werde gerade ein Online-Verfahren entwickelt, damit sich Hartz-IV-Anträge künftig online stellen ließen.

Eine vollständige Digitalisierung wäre höchst anspruchsvoll, sagt BA-Chef Scheele

Scheele sieht aber Grenzen bei der Digitalisierung. Das maßgebende Sozialgesetzbuch II samt ständigen Gesetzesänderungen und neuen Gerichtsurteilen sei zu komplex, um das Berechnen von Leistungen quasi einem Computerprogramm allein überlassen zu können. "Wenn sich zum Beispiel das Einkommen eines Mitglieds der Bedarfsgemeinschaft verändert, ändern sich die Leistungen der anderen Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft ebenso, und das sehr individuell." Das digital vom Anfang bis zum Ende abzubilden, wäre höchst anspruchsvoll, sagte Scheele.

Er wünscht sich daher ebenfalls mehr Pauschalen. Das durchzusetzen scheint jedoch schwierig zu sein. Das 2016 beschlossene Gesetz zur Rechtsvereinfachung im Hartz-IV-System kommentierten die Personalräte in den Jobcentern jedenfalls so: Das Gesetz führe in der Summe nicht zu einem einfacheren Recht und sei "in keiner Weise geeignet, Personalressourcen freizusetzen, die dann in die aktive Arbeitsvermittlung umgeschichtet werden können".

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SZ vom 19.04.2017/jps
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