Süddeutsche Zeitung

Handelsabkommen TTIP:Freihandel ja - aber mit Bedingungen

Lesezeit: 5 min

Handel schafft Wohlstand. Punkt. Aber viele Menschen lehnen die Pläne für das transatlantische Abkommen TTIP ab und fordern den Skalp vom Kopf des Kapitalismus. Warum wir trotzdem am Freihandel festhalten müssen.

Von Alexander Hagelüken

Selten war ein internationales Großprojekt so unproblematisch gestartet. Als die EU-Staats- und Regierungschefs im Sommer 2013 den Startschuss für das Transatlantische Freihandelsabkommen TTIP abfeuerten, waren alle einig. Keiner zweifelte daran, dass ein Vertrag zwischen Europa und Amerika das Bruttoinlandsprodukt um 120 Milliarden Euro steigern würde - pro Jahr.

Alle überzeugte die Logik, wonach die beiden größten ökonomischen Mächte, die zusammen die Hälfte der Weltwirtschaftsleistung produzieren, grenzenlose Warenexporte ermöglichen und ihre Gesetze angleichen sollten - wenn zum Beispiel Autokonzerne für beide Märkte nur einen Typ Rückspiegel, Blinker, etc. produzieren müssen, sparen sie viel Geld. Und mancher Regierungschef sah gar die Chance für Europa und Amerika, immer selbstbewussteren Schwellenmächten wie China, Indien oder Brasilien Produktstandards vorzugeben, also zentrale Elemente moderner Wirtschaftsordnung.

Inzwischen jedoch ist vor allem von Protesten die Rede. Den Europa-Wahlkampf dominierten mögliche Gefahren des Abkommens von Chlorhühnchen über Genfood bis zu Konzernklagen gegen europäischen Verbraucherschutz- oder Umweltgesetze. Selten war ein internationales Großprojekt so rasch umstritten wie nun dieses. Woran liegt das? Manchen Kritikern dienen die Proteste wie eine selbstbestätigende Prophezeiung: Wenn es so viel Protest gibt, müssen Europa und die USA doch was ganz Schlimmes aushecken.

Wer das alles bewerten will, sollte einen Blick zurück riskieren. Die Geschichte der globalisierungskritischen Proteste ist alt. Als 1999 in Seattle eine neue Welthandelsrunde im Rahmen der Welthandelsorganisation WTO starten sollte, blockierten Demonstranten die Straßen. Die US-Sicherheitsbehörden empfahlen den Ministern aus aller Herren Länder, in ihren Hotelzimmern zu bleiben.

"Sind doch alles Blinde hier!"

Im Paramount Theatre, in dem die Verhandlungen feierlich eröffnet werden sollten, blieben die Stuhlreihen leer. Ein Aktivist im Anzug erklomm die Bühne und schwang eine Rede gegen die Welthandelsrunde. Die Sicherheitsleute, eher auf physische denn auf geistige Anschläge trainiert, brauchten einige Minuten, bis sie es merkten und ihn von der Bühne zerrten. Der Brüsseler Agrarkommissar Franz Fischler, der sich nicht im Hotel halten ließ, schimpfte auf die organisierenden Amerikaner. In jeder deutschen Kleinstadt bekämen die Sicherheitsleute Protestierer in den Griff, raunzte er: "Das sind doch alles Blinde hier!"

Das Treffen scheiterte und die neue Welthandelsrunde wurde dann zwei Jahre später im abgeschiedenen Golf-Scheichtum Doha gestartet, was der Handelsrunde ihren Namen gab. Seattle aber war der Start einer kapitalismuskritischen Bewegung, die mit Organisationen wie Attac assoziiert wird. Wobei es kein Zufall war, dass sich die Aktivisten ausgerechnet auf dieses Thema einschossen: Es ist der freie Handel, der die Globalisierung beschleunigt wie nichts anderes. Der mit gewaltiger Kraft gewohnte Strukturen umpflügt, aber dessen Erfolge (wie die einer Währungsunion) seltsam abstrakt bleiben.

Mehr Wohlstand für breite Schichten? Dieses Versprechen treibt bis zu TTIP alle Handelsprojekte an, doch seine Einlösung lässt sich nur im historischen Rückblick erkennen. Als etwa Europas Staaten und die USA Ende des 19. Jahrhunderts eine relativ friedliche Phase begannen und gegenseitig die Grenzen für ihre Waren öffneten, erlebten sie in dieser ersten Phase der Globalisierung Dekaden der Prosperität.

Es ist historisch belegt, dass freier Handel auf lange Sicht Wohlstand erzeugt. Doch gerade diese lange Sicht macht ihn angreifbar für den Widerstand jener, die schnelle Nachteile fürchten. Bei der Konkurrenz der Nationen gewinnen unterm Strich viele, aber eben nicht alle. Und diese Opfer verlieren nicht abstrakt, sondern ganz konkret. Und das auch noch an fremde Mächte. Dass der Arbeiter seinen Job einzubüßen droht, ist schlimm genug. Dass er ihn aber nicht wegen der Fabrik in der Nachbarstadt verliert, sondern wegen Handel mit anonymen Ausländern - das erzeugt besondere Angst vor einer Macht aus dem Dunklen, die jederzeit wieder zuschlagen könnte.

Angst vor dem Fremden lässt sich leicht entzünden, wie während und nach dem Ersten Weltkrieg zu sehen war, der die Dekaden der Prosperität beendete und durch eine Zeit des Argwohns zwischen den Völkern ersetzte. Als die Industrienationen in der Finanzkrise 2008 in die Rezession stürzten und Hunderttausende entlassen wurden, begrenzten Regierungen den freien Handel: Seht her, wir stoppen die ausländische Ware an den Grenzen, die ist an eurem Elend schuld - und nicht unsere Unfähigkeit, wilde Finanzmärkte zu zähmen.

Der Protest gegen das Welthandelsabkommen nahm die Sorge auf, Industriearbeiter im Westen könnten durch das Wirken fremder Konzernmächte ebenso ihre Arbeit verlieren wie Bauern in den Entwicklungsländern, von den Umweltschäden ganz zu schweigen. Und die Kritik an TTIP erzeugt gerade deshalb so viel Resonanz, weil viele Europäer dem fremden Freund Amerika jede Menge Schlechtes zutrauen. Laufen die nicht allzu breitbeinig durch die Welt? Dominieren uns, hören uns ab? Ihr Hormonfleisch und Genfood wird schon gesundheitsschädlich sein. Und bestimmt finden "die Amis" Wege, uns das Zeug heimlich anzudrehen, mag der zuständige Brüsseler Kommissar noch so oft betonen, europäische Gesundheitsstandards seien sakrosankt.

Den freien Handel umgibt ein bemerkenswertes Ausmaß an Schizophrenität, ein Leben in zwei Welten. Einerseits sind die marktwirtschaftlichen Regierungen überzeugt, mit seiner Ausweitung den Wohlstand zu vermehren, weshalb sie überall auf der Welt neue Abkommen wie TTIP anstreben. Und die Geschichte zeigt ja, dass Phasen der Globalisierung Prosperität schaffen.

Regierungen verschanzen sich hinter der EU-Kommission

Andererseits lehnen viele Menschen im Westen dieses Konzept ab, nicht nur Kapitalismuskritiker und Umweltaktivisten, auch Industriearbeiter. Der langjährige amerikanische Handelsbeauftragte Bob Zoellick resümiert, "der Flugzeug- und Rüstungshersteller Boeing verkauft zwar 90 Prozent seiner Produkte ins Ausland, doch die Arbeiter sind trotzdem gegen Freihandel". Weshalb US-Präsident Bill Clinton - mit Blick auf die ein Jahr später anstehende Präsidentschaftswahl - die Demonstranten in Seattle den Start des Welthandelsabkommen sprengen ließ, was auch Boeing-Arbeitern gefiel. Weshalb die Regierungen in schweren Zeiten wie der Finanzkrise 2008 auf Protektionismus gegen ausländische Anbieter zurückgreifen, um Kritikern entgegenzukommen. Und weshalb sich manche Regierungen bei TTIP hinter der EU-Kommission verschanzen, seit die Proteste zunehmen.

Dabei gäbe es einen ehrlichen Weg aus der Schizophrenität. Europas Regierungen könnten sich dazu bekennen, dass sie grundsätzlich den Freihandel durch TTIP ausbauen wollen. Und gleichzeitig könnten sie den berechtigten Sorgen ihrer Bürger entgegenkommen, die sich mehr Wohlstand nicht durch den Verlust an Umwelt- und Gesundheitsstandards erkaufen wollen. Genfood? Nur nach europäischen Zulassungsverfahren und gekennzeichnet. Investorenklagen gegen Umweltgesetze wie der juristische Kampf von Vattenfall gegen den deutschen Atomausstieg? Nicht vor Geheimtribunalen, sondern nur vor ordentlichen Gerichten.

Ja, ein solcher Weg wäre kein entfesselter Kapitalismus nach neoliberalem Geschmack, sondern Freihandel mit Einschränkungen. Mit anderen Worten: Es wäre die Art von sozialer Marktwirtschaft, die der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg Jahrzehnte des Wohlstands beschert hat und dabei Spannungen zwischen den Gesellschaftsschichten nicht erhöhte, sondern abbaute.

Skalp vom Kopf des Kapitalismus

Nach einem solchen TTIP für alle sieht es derzeit nicht aus. Weder Befürworter noch Kritiker arbeiten darauf hin. Die EU-Kommission etwa machte lange die übliche Geheimnistuerei von Handelsrunden mit, die angesichts neuerdings skeptischer Bürger falsch ist. Unter dem erheblichen Druck der Amerikaner scheut sich Brüssel beispielsweise die umstrittenen Investorenklagen zu opfern, um den Kritikern ein Zeichen zu setzen - und das ganze Abkommen zu retten.

Den meisten Protestierern wiederum scheint es nicht um konstruktive Veränderungen des Abkommens in ihrem Sinne zu gehen, sondern um einen Skalp vom Kopfe des Kapitalismus. TTIP soll weg, so wie man einst das Urheberrechtsabkommen ACTA und das Investitionsabkommen MAI zu Fall brachte. Können die Regierungen dem nachgeben? Nein. Freihandel ist ein zentraler Bestandteil der Marktwirtschaft. Er lässt sich einschränken, weil Bürger zu Recht auf Verbraucherschutz und Ökologie pochen, aber nicht opfern, wenn man es mit der Marktwirtschaft ernst meint.

Wie geht es weiter mit dem Transatlantischen Freihandelsabkommen? Im Moment stehen sich zwei Seiten unversöhnlich gegenüber. Das lässt sich vielleicht mit mehr Information verändern, weshalb der heftige Streit dieser Tage durchaus hilfreich ist. Befriedigend lösen aber lässt sich der Streit um das Abkommen nur, wenn ein ehrlicher Weg aus der Schizophrenie gesucht wird: Ein Festhalten am Freihandel, ja, weil er das Versprechen auf mehr Wohlstand nährt. Aber kein Festhalten allein. Sondern auch eine Absage an Auswüchse, die die Rechte der Bürger einschränken, nur um Unternehmen noch mehr Profit zu sichern.

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