Süddeutsche Zeitung

Handel:Die Lust am echten Geschäft

  • Online-Händler wie Cyperport eröffnen zunehmend Geschäfte.
  • Die Läden hingegen rüsten elektronisch auf - auch, um die Entscheidungen der Kunden besser zu analysieren.

Von Helmut Martin-Jung

Weiße Tische, darauf Smartphones, Laptops und Tablets. Wände mit Fernsehgeräten, Regale mit Kaffeemaschinen und Toastern, Druckern und anderem Computerzubehör - auf den ersten Blick ist in dem Elektronikmarkt im Münchner Norden nichts anders als bei Mediamarkt oder Saturn. Doch auf den zweiten sieht man sie überall in dem Laden: iPads, die in verschraubten Halterungen stecken. Mit den Tablets lässt sich komfortabel durch das gesamte Angebot von Cyberport surfen. Schließlich hat die Firma mehr Toaster, Laptops, Kaffeemaschinen und Drucker im Programm als sie jemals in einen Laden zeigen könnte. Denn Cyberport, das ist eigentlich ein Online-Versender. Und doch ist der Münchner Laden inzwischen schon der 13. in Deutschland, diese Woche wurde bereits ein weiterer in Wien eröffnet. Also Kommando zurück, lieber doch wieder Geschäfte, in denen man alles in die Hand nehmen, ausprobieren, anprobieren, befühlen kann? Vergesst online?

Soweit wird es nicht kommen. Der Boom des Online-Handels hält an - von 2004 bis 2013 ist der Umsatz im E-Commerce allein in Deutschland von 13 auf 39 Milliarden Euro emporgeschnellt. Nach den Verlierern braucht man nicht lange zu suchen. Viele kleine Händler müssen gleich ganz schließen, bei den Großen, etwa Karstadt, gehen die Umsätze zurück, weil ihre veralteten Konzepte für die neue Zeit nicht mehr taugen.

Viele Ideen

Aber wie sähe so etwas aus, ein passendes Konzept? Seit die Digitalisierung auch den Handel erfasst, ist dies die Frage, die alle umtreibt. Wer stationäre Geschäfte betreibt, möchte wissen: Wie kann ich den Laden attraktiver machen, wie mit Online-Angeboten verknüpfen. Und die reinen Online-Händler spüren mehr und mehr, dass es dem Kunden oft eben nicht reicht, bloß das Bild eines Artikels zu sehen.

Ideen gibt es viele, gerade erst ging die Euro-CIS in Düsseldorf zu Ende. Früher war das eine Veranstaltung für ein paar Computer-Verrückte, für Nerds. Heute ist die Messe für IT im Handel ein Pflichttermin für Händler, die nicht schon morgen oder übermorgen untergehen wollen. Wenn der Kunde der Zukunft ins Supermarktregal greift, um irgendetwas herauszunehmen, löst er womöglich eine Daten-Kaskade aus. Sensoren und Kameras entgeht nicht die kleinste Regung. Wo bleibt er stehen, was nimmt er heraus, was legt er zurück, wie lange guckt er auf welchen Teil der Verpackung? Und was für ein Gesicht zieht er dabei? All das würden Einzelhändler und Markenartikelhersteller gerne wissen. Und die Technik kann noch mehr: Auf Basis der gesammelten Daten spielt ein neben dem Regal platzierter Bildschirm Produktvideos ab, zeigt vielleicht auch, wie der Kunde im Internet-Shop des Unternehmens die gleiche Jacke in grün und passender Größe bestellen kann.

Was noch sehr futuristisch klingt, ist schon in Betrieb, so etwa in einem Jack-Wolfskin-Store im Ruhrgebiet. Die Anbieter beteuern, personenbezogene Daten würden dabei nicht erhoben. Die Kunden aber, das zeigt eine Umfrage des Sicherheitsdienstleisters Symantec in Deutschland, fürchten genau das. Weniger als ein Viertel der Befragten vertraut darauf, dass der Handel verantwortungsvoll mit Daten umgeht.

Noch ist Zeit gegenzusteuern, denn die meisten Neuerungen sind noch im Experimentierstadium. Da werden Füße digital und in 3-D vermessen, werden Kühlboxen gezeigt, die vor Supermärkten stehen könnten. Der Kunde lässt sie per Online-Bestellung befüllen und kann dann den Inhalt jederzeit abholen. Es gibt Hautscanner, mit denen bei Douglas Kosmetika ausgewählt werden können, die zum Hauttyp passen, und Schaufenster, die plötzlich zu sprechen anfangen, wenn ein Kunde vorbeikommt und dabei gestikuliert.

Was sich davon durchsetzen wird? Das wüssten die Handelsunternehmen auch gerne. Klar ist nur eines: Die IT-Budgets werden steigen. Schon vergangenes Jahr haben sie deutlich zu Buche geschlagen, durchschnittlich 1,24 Prozent vom Nettoumsatz müssen die Händler bereits jetzt für Computer und andere IT ausgeben. Und es fehlen auch hier die Fachkräfte.

Dabei gäbe es jede Menge zu tun. Wer Waren auch online verkaufen will, muss zum Beispiel sein System für Warenwirtschaft mit dem für Online-Bestellungen verknüpfen. Elektronische Preisschilder sind praktisch, müssen aber auch erst einmal programmiert werden. Nur etwas mehr als jedes zehnte Unternehmen im Einzelhandelsverband sieht sich dabei schon gut aufgestellt. Obwohl den meisten mittlerweile klar ist, was ihnen die eigenen Forscher vorbeten: "Will der Handel nicht auf wertvolle Umsätze verzichten, muss er seine Kunden über alle Kanäle hinweg ansprechen", sagt Michael Gerling, Geschäftsführer des EHI Retail Institute.

Alle Kanäle, heute Omnichannel genannt, ist längst so etwas wie ein Zauberwort geworden, eines, das in vielen Branchen heiß diskutiert wird, etwa im Buchhandel. Auch Thalia & Co. mussten ihre Ladenflächen in den vergangenen Jahren drastisch reduzieren. Hatte Thalia 2011 bundesweit noch 238 und Weltbild um die 280 Filialen, sind es mittlerweile nur noch 214 beziehungsweise 150 Läden. Dazwischen liegen ein Verkaufsversuch (Thalia) und eine Insolvenz (Weltbild). Beide schließen immer noch Standorte, Weltbild will die Hälfte seiner Geschäfte verkaufen. Dennoch: Die Filialen komplett aufzugeben, ist keine Option. Ansprechbar bleiben, die Kunden in den Filialen auch beraten können, das bleibt das Ziel. Gerade in einer Zeit, in der so mancher Internet-Konzern plötzlich in den Fußgängerzonen auftaucht, wäre es regelrecht fahrlässig, diesen Wettbewerbsvorteil aufzugeben.

Wie wichtig der Kontakt zum Kunden von Mensch zu Mensch sein kann, das entdecken auch Internet-Händler mehr und mehr. Dem größten unter ihnen, Amazon, wird sogar Interesse an Läden der bankrott gegangenen US-Elektronikkette Radio Shack nachgesagt. Thalia-Chef Michael Busch sieht die Branche gerade deswegen im Vorteil, weil die Buchhändler die gewachsenen Strukturen mit neuen Online-Angeboten kombinieren können. Das E-Buch-Lesegerät Tolino beweise, "dass der heimische Buchhandel innovative Ideen entwickeln und erfolgreich umsetzen kann", sagt Busch. Dass nun auch Amazon über Geschäfte in den Innenstädten nachdenkt, sieht er als "Bestätigung unserer Cross-Channel-Strategie".

Banken schließen Filialen

Online und offline zu verbinden, das ist auch für die Banken ein großes Thema. In den vergangenen 20 Jahren hat sich die Anzahl ihrer Filialen glatt halbiert, dennoch prophezeit Bettina Wunderlich, Bankenexpertin der Beratungsgesellschaft Accenture: "Die Filiale ist tot, es lebe die Filiale." Den radikalsten Weg geht die Hypo-Vereinsbank. Sie verringert die Zahl der Filialen um fast die Hälfte auf 340. Sie will die Kunden in "Online-Filialen" locken, wo sie per Video oder Telefon mit Beratern reden sollen. Auch bei Sparkassen oder Volks- und Raiffeisenbanken werden immer wieder Filialen geschlossen und verschmolzen. Die Commerzbank hat das Netz von 1600 auf 1100 ausgedünnt. Das liegt natürlich daran, dass Kunden inzwischen die meisten Bankgeschäfte online erledigen können, aber: "Es wird immer Kunden geben, die das persönliche Gespräch suchen und darauf Wert legen, dass ihnen in der Bank bei der Beratung jemand in die Augen schaut", sagt Beraterin Wunderlich. Das Thema ist so wichtig, dass sogar reine Online-Banken mittlerweile darüber nachdenken, Filialen zu eröffnen, sozusagen als "Anker in der realen Welt", wie Rüdiger Filbry von der Beratungsgesellschaft Boston Consulting Group das nennt.

Und wer nicht gleich aufs Ganze gehen will, kann erst einmal mit einem Pop-up-Store experimentieren, so wie etwa das norwegische Unternehmen One Piece. Einteiler nach Art eines Baby-Stramplers, schon seit Jahren verkaufen sich die Jump Suits mit Norwegermuster sehr erfolgreich. In München hat One Piece gerade einen solchen temporären Laden. An der Decke sieht man die rohen Gipskarton-Platten, eine Kasse gibt es auch nicht, nur eine blecherne Geldkassette - und ein iPad. Funktioniert alles super, sagt die Verkäuferin. "Nur manchmal, wenn das Wlan nicht geht, dann ist es schon blöd."

Mitarbeit: Kirsten Bialdiga, Harald Freiberger, Dieter Sürig, Kathrin Werner

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Quelle:
SZ vom 28.02.2015/hgn
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