Süddeutsche Zeitung

Handel:Der Koffer denkt mit

Freche Start-ups wie der Reisetaschenhersteller Horizn Studios ärgern etablierte Hersteller: mit günstigen Eigenmarken, die sie auch selbst online vertreiben.

Von Michael Kläsgen

Bevor Stefan Holwe auf den Koffer kam, hat er auf Hawaii studiert. Das eine hat mit dem anderen durchaus etwas zu tun. Denn Holwe reist noch heute gern und das vor allem in Gegenden, wo man surfen kann. Es gab Zeiten, ehe er Horizn Studios in Berlin gründete, da saß er jede Woche zwei, drei Mal im Flieger, sagt er. Und irgendwann fragte er sich: Warum tut sich da bei den Koffern eigentlich so wenig? Um ihn herum veränderte sich die Welt. Sie wurde, wie der heute 39-Jährige sagt, "hypermobil und hyperkonnektiv dank des Internets und der Digitalisierung. Nur die Koffer, die auf den Förderbändern auf den Flughäfen dieser Welt an ihm vorüberzogen, fand er, blieben immer gleich. "Die größte Gepäck-Innovation in den vergangenen 20 Jahren war der Wandel von zwei auf vier Rädern", spöttelt der Firmengründer.

In dem Surfer Holwe rührte sich irgendwann der Unternehmergeist. 2015 gründete er mit seinem Kollegen Jan Roosen die Firma Horizn Studios, die ausschließlich Koffer und Reisetaschen herstellt und auch verkauft. Sie macht alles, von der Produktion bis zur Auslieferung. Weil sich das alles im Internet abspielt - Horizn Studios hat bisher nur einen kleinen Laden in Berlin-Mitte - und der Trend von Amerika herübergeschwappt ist, heißen solche Firmen im Slang der E-Commerce-Welt Digital Native Vertical Brands oder kurz: DNVBs. Start-ups, die Eigenmarken für eine spezifische Produktkategorie aufbauen und meist online, aber immer öfter auch stationär an die Verbraucher vertreiben. Das ist der jüngste Trend im Einzelhandel: die Kombination von Online-Handel und dem Versuch, eine neue Marke bei Konsumgütern aufzubauen.

Klar, geht es dabei ziemlich disruptiv zu, um nicht zu sagen: destruktiv, wenn auch nur im kleinen Rahmen. Die Start-ups picken sich gezielt Produkte heraus, die bisher von etablierten Konzernen verkauft werden, Koffer, Matratzen oder Rasierklingen, und bieten sie den Kunden direkt an, ohne über den Umweg Kaufhaus oder Filiale zu gehen. Sie verkürzen so die Wertschöpfungskette, sie lassen die Zwischenhändler einfach weg. Für dieses Vorgehen haben sich die Amerikaner auch einen Begriff ausgedacht: Cut-out-the-Middlemen.

Die jungen Gründer bekommen inzwischen viel Geld von Finanzinvestoren

Besonders erfolgreich unterwegs dabei sind JustFab bei Damen-Mode, Bonobos bei Herren-Mode, Warby Parker bei Brillen und Casper bei Matratzen. Der Trend ist allerdings noch so neu, dass sich der Erfolg im Moment noch am Geld bemisst, das die Start-ups bei Risikokapitalgebern einkassiert haben. Laut der Datenbank Crunchbase konnten JustFab und Warby Parker bereits weit mehr als 200 Millionen Dollar einsammeln, Casper mehr als 70 Millionen Dollar. Der Konsumgüterkonzern Unilever zahlte für das auf Rasierer-Abonnenten spezialisierten Start-up Dollar Shave Club eine Milliarde Dollar.

In Deutschland heißen die Online-Direktvertreiber Pets Deli (Tierfutter), Lillydoo (Babyprodukte), Muun (Matratzen) oder Jungfeld (Socken). Pets Deli sammelte von den Investoren, zu denen unter anderen Rocket Internet und Project A zählen, einen zweistelligen Millionenbetrag ein. In Deutschland fließt nicht so schnell Risikokapital wie in den USA. Deswegen sind die Start-ups hier eine Nummer kleiner. Aber auch hierzulande verfängt das Geschäftsmodell. Im Einzelhandel sind die Margen extrem klein geworden. Die DNVBs locken jetzt mit Wachstumsraten wie im Online-Handel und mit Margen wie bei Markenartikeln. Klar ist allerdings auch, dass nicht alle ihre Versprechen halten können.

Holwe wähnt sich mit seinen Horizn Studios jedenfalls an der Spitze der vertikalen Bewegung in Deutschland. Zu seinen Finanzierern gehören Investoren wie Vorwerk Ventures und der ehemalige Puma-Chef Franz Koch. Am Dienstag sammelte Horizn weitere Millionen bei einer neuen Finanzierungsrunde ein. Seit Anfang des Jahres hat Horizn Studios seinen Umsatz nach eigenen Angaben verzehnfacht. Das Wachstum betrage monatlich 40 Prozent. Horizn habe 2016 weit mehr als 10 000 Koffer und Reisetaschen ausgeliefert. Holwe sagt, er breche mit dem neuen Geschäftsmodell verkrustete Handelsstrukturen in der Branche auf.

Aufgrund der Margen der Zwischenhändler verachtfachten sich dort die Preise auf dem Weg zum Kunden, sagt er. Die Rechnung bei Horizn Studios gehe hingegen so: Das Start-up könnte einen Koffer für 100 Euro herstellen, ein GPS-System beifügen, den Koffer für 299 Euro verkaufen und so am Ende noch mehr verdienen als die bekannte Koffermarke Rimowa, die kürzlich an den französischen Luxus-Konzern LVMH verkauft wurde.

Nach seinen jahrelangen trüben Beobachtungen an den Gepäckbändern diverser Flughäfen in der Welt nimmt Holwe für sich in Anspruch, jetzt einen "intelligenten Koffer" entworfen zu haben, den "Smart Cabin Trolley", ein Koffer mit GPS, Smartphone-Ladegerät und virtuellem Reiseassistenten. Wird ein Flug storniert, was angesichts der Streiks ein aktuelles Thema ist, kümmert sich Horizn um die Umbuchungen. Nur packen kann sich der Koffer noch nicht selber.

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Quelle:
SZ vom 07.12.2016
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