Süddeutsche Zeitung

Haftnotizen:Bleibt kleben

Die kleinen Post-it-Zettel gibt es seit 40 Jahren. Sie haben den Alltag der Menschen verändert - und tun es immer noch. Auch in Corona-Zeiten.

Von Benjamin Emonts

Charlotte hat gute Nachrichten. Von ihrem Langzeitlover Harry hat sie endlich einen Antrag bekommen. Beim Treffen mit ihren Freundinnen in einem Café streckt sie ihre Hand aus und zeigt einen funkelnden Verlobungsring. "Und, was sind deine News, Carrie?", fragt sie danach. "Ach, mit mir wurde gerade Schluss gemacht", antwortet Carrie. "Mit einem Post-it!" Die kurze Notiz des Abtrünnigen auf dem Zettel: "Es tut mir leid. Ich kann nicht. Bitte hasse mich nicht!"

Natürlich hätte es für Carries Lover in der TV-Erfolgsserie Sex and the City noch zig andere Möglichkeiten gegeben, die Sache zu beenden: miteinander sprechen zum Beispiel, telefonieren, eine Nachricht versenden - oder vom Hotelpagen die Nachricht überbringen lassen, wie es die toughe Miranda einmal ertragen musste. Fühlt sich vermutlich alles nicht toll an.

Dass die Message ausgerechnet auf einem Post-it übermittelt wurde, entspricht aber durchaus dem Zeitgeist. Die kleinen Klebezettel sind über die Jahrzehnte zu einem Teil der Popkultur geworden. Seit sie am 6. April 1980, vor exakt 40 Jahren, erstmals auf dem US-Markt auftauchten, haben sie den Alltag der Menschen verändert. Sie dienen zum Schlussmachen ("Es tut mir leid"), Erinnern ("Klodeckel bitte runter!"), Botschaften überbringen ("Mama hat angerufen!") und Denkzettel verpassen ("Park deine Karre gefälligst woanders!"). Die US-Zeitschrift Fortune hat die klebenden Zettel gar als eine der wichtigsten Erfindungen des 20. Jahrhunderts gepriesen - neben der Boeing 707, dem Kühlschrank und der Compact Disc.

Strittig ist jedoch, wann die Geburtsstunde des Klebezettels war. Der US-amerikanische Chemiker Spencer Silver, der für das weltbekannte Unternehmen Minnesota Mining and Manufacturing Company (3M) arbeitete, war nämlich bereits vor 50 Jahren an dem Versuch gescheitert, einen noch nie dagewesenen Superkleber zu entwickeln. Die klebrige Masse, die er angerührt hatte, ließ sich zwar wunderbar auf Flächen auftragen, aber genauso leicht wieder ablösen. Am 9. März 1970 ließ sich Silver den Kleber patentieren, bevor er wieder in Vergessenheit geriet.

Erst Jahre später erinnerte sich ein gewisser Art Fry, ein Kollege Spencers, an den Kleber. Fry war Sänger im Kirchenchor und ärgerte sich über die Merkzettel in seinen Notenheften, die immer umherflatterten. Er holte sich eine Probe von Spencers missratenem Kleber, schnitt sich kleine Zettel zurecht und klebte sie in sein Heft, in dem sie tatsächlich haften blieben, aber auch leicht wieder zu entfernen waren. So stieg Fry zum gefeierten Erfinder des Post-its auf.

Die ursprünglich kanariengelben Zettel eroberten von den USA aus die Welt: Der Hype wurde zeitweise so groß, dass 2011 ein regelrechter "Post-it-War" ausbrach. Die Mitarbeiter des Computerspieleherstellers Ubisoft hatten in einem Pariser Vorort mit den bunten Zetteln Aliens an ihre Glasfassade geklebt, worauf die Angestellten der gegenüberliegenden Großbank BNP Paribas mit einem riesigen feuernden Raumschiff konterten. Der "Krieg der Zettel" griff bis nach Hamburg, Tokio und New York um sich, wo namhafte Werbeagenturen Figuren wie Homer Simpson oder Superman klebten.

In Hongkong dienten die Zettel für Protestbotschaften, die auf die Körper von Demonstranten geklebt wurden. Oder jetzt, in Zeiten der Corona-Pandemie, bringen Bewohner von San Francisco Post-its an ihre Fenster an, um ihre Nachbarn zu erheitern. Sie kleben Herzen, Blumen oder einfach ein "Hi" morgens zur Begrüßung. Selbst nach 40 Jahren scheinen sich die Haftnotizen noch nicht abgenutzt zu haben. Sie gibt es mittlerweile in 400 Farben. Das amerikanische Unternehmen 3M verkauft sie nach eigenen Angaben in mehr als 150 Länder. Die Umsätze mit den Post-its, so liest man, liegen im dreistelligen Milliardenbereich.

Auch die fortschreitende Digitalisierung mit ihren Tablets, Piepern und Smartphones scheinen die Post-its problemlos zu überleben. Besonders in der Start-up-Szene werden die kleinen Zettel geradezu glorifiziert. Sie gelten als unentbehrliche Arbeitswerkzeuge, um kreative Denkprozesse zu ordnen und zu visualisieren. Und zum Aus-der-Affäre-Ziehen, so wie Carrie es erlebte, werden die praktischen Helfer dem Vernehmen nach auch heute noch oft genutzt.

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SZ vom 06.04.2020
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