Arbeit:"Nächstenpflege macht arm. Das ist die erschütternde Wahrheit"

Häusliche Pflege

Für einen pflegebedürftigen Angehörigen da und gleichzeitig berufstätig sein, das ist nur sehr schwer vereinbar.

(Foto: Ute Grabowsky/imago images)

Mehr als 80 Prozent der in Deutschland pflegebedürftigen Menschen werden zu Hause versorgt - oft von Angehörigen, die zusätzlich einen stressigen Job haben. Dabei gäbe es einiges, was Arbeitgeber und Pflegende tun könnten, damit die Situation einfacher wird.

Von Elisa von Grafenstein

Lange hatte Heike Lehle nur eine Ahnung, dass mit ihrer Mutter etwas nicht stimmte. Doch irgendwann war die Demenzerkrankung nicht mehr zu leugnen. "Sie hat sich immer mehr zurückgezogen", erinnert sich die 41-Jährige. Plötzlich habe ihre Mutter keinen Humor mehr gehabt, Ironie nicht verstanden und sie reagierte manchmal im Gespräch unpassend. Später dann klaute sie im Geschäft Bonbons, weil sie Heißhunger auf Süßigkeiten bekam und verschwand mitten in der Nacht aus dem Haus. "Immer wieder mussten wir losfahren und sie suchen."

Lehle und ihre Schwester bauten mit dem Vater einen GPS-Sender in den Schlüsselanhänger der Mutter ein und versuchten sie davon zu überzeugen, dass sie kein Auto mehr fahren sollte. Dazu kam der ganz normale Alltagswahnsinn daheim: Beide haben zwei kleine Kinder und einen Beruf. Und dann noch die Entfernung: Lehle wohnt in München, ihre Eltern und die Schwester in Baden-Württemberg.

Wie Lehle haben sehr viele Menschen in Deutschland Schwierigkeiten, den Beruf und die Pflege eines Angehörigen unter einen Hut zu bringen. Laut der sozialen Pflegeversicherung waren im Jahr 2020 4,3 Millionen Personen pflegebedürftig, Tendenz stark steigend. Mehr als 80 Prozent werden zu Hause gepflegt. Ein großer Teil der Pflegenden ist zwischen 40 und 65 Jahre alt - also in einem Alter, in dem sie noch arbeiten könnten. Doch nur rund ein Drittel aller Pflegenden ist berufstätig, jeder vierte Betroffene reduziert die Arbeitszeit aufgrund der Pflege oder muss sie deswegen ganz aufgeben. Wenn dann noch kleine Kinder im Haus sind, wird die Doppelbelastung zur Dreifachbelastung.

Vera Schneevoigt ist eines der bekanntesten Beispiele für Frauen, die ihren Beruf aufgeben, um ihre Eltern zu pflegen. Sie war früher Chief Digital Officer bei Bosch und hat vor wenigen Wochen ihren Managerjob aufgegeben. Sie habe sich für ihre Familie entschieden, sagt sie selbst. Die Resonanz auf ihre Ankündigung in Karriereforen war groß.

Anders als Schneevoigt können es sich viele Menschen aber nicht leisten, auf Erwerbsarbeit zu verzichten. Wer das tut, kann schnell in die finanzielle Abhängigkeit etwa vom Partner rutschen. "Nächstenpflege macht arm. Das ist die erschütternde Wahrheit", sagte VdK-Präsidentin Verena Bentele jüngst. Laut Deutschem Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) ist jeder fünfte pflegende Angehörige armutsgefährdet. Bei pflegenden Frauen ist es sogar jede vierte. Sozialverbände machen sich auch große Sorgen wegen der hohen Energiekosten, die die pflegenden Haushalte noch zusätzlich belasten werden. Abgesehen davon, dass eine Jobpause für viele aus finanziellen Gründen nicht infrage kommt: Der Beruf kann auch für den Pflegenden selbst ein wichtiger Ausgleich sein. "Er kann helfen, sich nicht von der Pflegesituation absorbieren zu lassen", sagt Simon Eggert von der Stiftung Zentrum für Qualität in der Pflege (ZQP). Allerdings könne es auch zu immensem Stress führen.

Was aber sind die ersten Schritte, wenn Vater, Mutter oder Schwester pflegebedürftig werden? Wie schafft man es, die Belastung zu reduzieren? Und wie können Arbeitgeber ihre Mitarbeitenden unterstützen?

Es ist gut, sich früh mit dem Thema auseinanderzusetzen

"Das Wichtigste ist, dass man sich schon frühzeitig in der Familie über das Vorgehen im Ernstfall verständigt", sagt Felizitas Bellendorf, zuständig für das Thema Pflege bei der Verbraucherzentrale NRW. "Wir wohnen nun einmal nicht mehr alle in Großfamilien, wo die Großeltern so ohne Weiteres mitlaufen können." Und Frauen wollten oft nicht mehr einfach ihre Karriere aufgeben. Immer noch pflegen sie deutlich häufiger als Männer. In Deutschland gäbe es ein sehr gutes Beratungsangebot, sagt Bellendorf. Doch nicht alle nutzten das. Welche Anträge sind zu stellen, wie kann der weitere Weg aussehen, welche Einrichtungen gibt es in der Nähe? Bei solchen Fragen könne schon der Soziale Dienst im Krankenhaus, wenn zum Beispiel nach einem Schlaganfall plötzlich ein Pflegefall auftritt, eine große Unterstützung sein - ebenso wie später Pflegestützpunkte vor Ort oder die kommunale Pflegeberatung. Bei der Suche nach der passenden Einrichtung ist die Datenbank des ZQP hilfreich. Das Familienministerium beantwortet zudem erste Fragen am Pflegetelefon.

Auch wer schon länger pflege, sollte sich regelmäßig beraten lassen, empfiehlt Bellendorf. "Oft ändert sich die Situation, und es kommen immer wieder neue Fragen auf." Äußerst wichtig findet sie auch Gesprächskreise mit anderen Angehörigen. "Viele scheuen das erst mal", sagt sie. Dabei hätten die oft die besten Tipps, etwa, wie man die Wohnung praktisch einrichtet. Denn: "Die Angehörigen sind Experten in eigener Sache."

So ging es auch Heike Lehle. Sie nahm einige Tage an einem Treffen für Angehörige von Demenzkranken teil. "Es hat wahnsinnig gutgetan, mit anderen darüber zu sprechen", sagt sie. Pflegende Angehörige, ganz besonders Berufstätige, sollten sich nicht selbst vergessen - da sind sich alle Experten einig. Denn nur wer gut für sich selbst sorgt, kann auch anderen helfen.

Wer für die Pflege eines Angehörigen beruflich pausieren will, hat laut Gesetz zur besseren Vereinbarkeit von Pflege und Beruf mehrere Optionen: Die sogenannte Arbeitsverhinderung erlaubt es Berufstätigen, bis zu zehn Tage (in der Corona-Pandemie 20 Tage) pro zu pflegende Person kurzfristig von der Arbeit fernzubleiben. In der Pflegezeit können sie sich bis zu sechs Monate freistellen lassen oder in Teilzeit arbeiten. Der Staat gibt dann ein zinsloses Darlehen. In der Familienpflegezeit können Arbeitnehmer sogar bist zu zwei Jahre in Teilzeit gehen, müssen aber mindestens 15 Stunden wöchentlich arbeiten und dies rechtzeitig dem Arbeitgeber ankündigen. In dieser Zeit haben sie Kündigungsschutz.

Viele trauen sich nicht, mit dem Arbeitgeber zu sprechen

Allerdings werden die Auszeiten nur sehr wenig genutzt. Zu gering, zu unübersichtlich, ein bürokratischer Dschungel, lautet etwa die Kritik von Sozialverbänden. Der Beirat für die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf hat von der Regierung erst vor wenigen Wochen Nachbesserungen gefordert: unter anderem, dass die kurzfristige Auszeit nicht nur einmalig, sondern jährlich genommen werden kann, und dass pflegenden Angehörigen Familienpflegegeld für 36 Monate ausgezahlt wird - ähnlich wie beim Elterngeld. "Das würde ein Zeichen setzen für die Wertschätzung der pflegenden Angehörigen, die ja gern in aller Munde ist", findet auch Verbraucherschützerin Bellendorf. "Denn was würden wir machen, wenn die alle aufhören würden?"

Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände hält "eine Ausdehnung der Dauer der Familienpflegezeit und deren Stückelung" vor dem Hintergrund der aktuellen Arbeitsmarktsituation dagegen für den falschen Weg. Schon die bestehenden Regelungen stellten die Unternehmen "vor erhebliche Herausforderungen". Arbeitgeber und Arbeitnehmer würden in der Praxis im Einzelfall vielfältige Lösungen finden. Als vorbildliches Beispiel nennt eine Sprecherin die Metall- und Elektro-Industrie: Mehr als 40 Prozent der Unternehmen böten hier Langzeitkonten für individuelle Auszeiten an, fast alle schon seit Jahren eine befristete Absenkung der Arbeitszeit. In der Branche ist außerdem tarifvertraglich geregelt, dass Pflegende anstelle eines Zusatzentgelts acht Freistellungstage beantragen können.

Heike Lehle hatte Glück, sie musste in ihren Beruf nicht pausieren oder ihn gar aufgeben. Sie ist Rechtspflegerin beim Oberlandesgericht Nürnberg. Ihr Chef ermöglichte es ihr, vollständig ins Home-Office zu wechseln und nach Baden-Württemberg zu ziehen, um näher bei ihrer Mutter zu sein. Für sie hat es sich also gelohnt, in der Arbeit offen über die neue Situation zu reden. Das ist allerdings oft nicht der Fall. "Viele trauen sich nicht, in der Arbeit mitzuteilen, dass sie einen Angehörigen pflegen müssen", sagt Bellendorf.

Flexible Arbeitszeiten und Arbeitsorte erleichtern die Vereinbarkeit

Insgesamt seien viele Unternehmen aber bei dem Thema sensibler geworden, sagt die Verbraucherschützerin. Firmen bilden etwa sogenannte Pflegelotsen aus, die ihre Kollegen beraten, wenn ein plötzlicher Pflegefall eintritt. Hilfreich sind eine freie Arbeitszeiteinteilung und - wenn möglich - das Angebot, im Home-Office zu arbeiten. Firmen können auch Kooperationen mit externen Dienstleistern oder Selbsthilfegruppen eingehen. "Unternehmen sollte die Pflege von Angehörigen genauso viel wert sein wie die Erziehung von Kindern bei Eltern. Bei den Kindern ist das Bewusstsein inzwischen da", sagt Elisabeth Fix. Sie ist bei der Caritas auf Bundesebene Referatsleiterin der Kontaktstelle Politik. "Bei den pflegenden Angehörigen ist da noch sehr viel Luft nach oben. Dabei ist es doch eigentlich das Gleiche."

Manche Firmen haben das erkannt, lange bevor es ein Gesetz zur besseren Vereinbarkeit von Pflege und Beruf gab. Das Medizintechnikunternehmen B. Braun etwa. Der Konzern bietet seit 2007 Familienteilzeit für pflegende Mitarbeiter an. Der Konzern ermöglicht einen Teilzeitgrad von 50 bis 75 Prozent, der mit einem finanziellen Aufstockungsbetrag vergütet wird.

Wer keine stationäre Einrichtung nutzen will oder kann - durchschnittlich fallen dort rund 2000 Euro Zuzahlung im Monat an - und die kranke Mutter daheim pflegt, kann sich professionell unterstützen lassen. Die Verbraucherzentrale bietet eine gute Übersicht über die verschiedenen Leistungen. Die Pflegekasse übernimmt etwa - je nach Pflegestufe - anteilig Kosten für einen ambulanten Dienst. In der Tagespflege können die Pflegebedürftigen zusätzlich tageweise betreut werden. "Das ist ein geniales Angebot, gerade für Berufstätige, die zu Hause pflegen wollen. Es wird aber wenig genutzt", sagt Bellendorf. Tatsächlich verzichten mehr als 50 Prozent der Pflegenden laut einer aktuellen Umfrage auf Leistungen wie Pflegedienst, Verhinderungs- oder Kurzzeitpflege, weil sie zu viel zuzahlen müssten. Oft seien genau solche kurzfristigen Angebote auch gar nicht ausreichend verfügbar, sagt Fix. "An einen Kurzzeitpflegeplatz zu kommen, gleicht derzeit der Quadratur des Kreises." Dabei seien diese Plätze sehr wichtig, wenn der Pflegende kurzfristig ausfällt, etwa weil er selbst erkrankt. Einen Rechtsanspruch auf einen Kurzzeitpflegeplatz gibt es bisher aber nicht.

Lehles Mutter hatte einige Jahre eine eigene Pflegerin und besuchte zwei- bis dreimal die Woche eine Tagespflege. "Das war eine gute Mischung für uns alle", erinnert sich Heike Lehle. Wenn auch mit gut 2000 Euro Eigenleistung sehr teuer. Doch dann schloss die Tagespflege - und sie merkten, dass es so nicht mehr weitergehen konnte. "Die Belastung war einfach zu hoch, auch für meinen Vater." Inzwischen haben sie für die Mutter einen Platz im geschützten Bereich eines Pflegeheims gefunden - zwei Jahre standen sie auf der Warteliste. Es sei keine leichte Entscheidung gewesen, sagt Lehle. Doch inzwischen sei sie sehr froh über die Lösung. "Uns ist eine sehr große Last von den Schultern gefallen."

Zur SZ-Startseite

Häusliche Pflege
:Großer Bedarf an Tages- und Kurzzeitplätzen

Eine Befragung von pflegenden Angehörigen im Landkreis München offenbart die Notwendigkeit von Entlastung. Landrat Göbel hält einen ähnlichen Ausbau wie in der Kinderbetreuung für notwendig.

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: