Süddeutsche Zeitung

Gustav Horn und Michael Hüther im Streitgespräch:"Dieses System ist nicht gerecht"

Duell der Wirtschaftstheoretiker: Die Top-Ökonomen Horn und Hüther über den monstermäßigen Erkenntnisgewinn von Bundespräsident Köhler, das Lohn-Gerechtigkeitsfieber der Deutschen, warum Landesbanken unsexy sind, was die US-Hypothekenkrise mit abgestandenem Kakao zu tun hat - und warum in Erfurt demnächst Haare in Eigenregie daheim geschnitten werden.

Melanie Ahlemeier, Hans-Jürgen Jakobs, Video: Marcel Kammermayer

Professor Gustav Horn leitet seit Januar 2005 das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung mit Sitz in Düsseldorf. Der heute 53-Jährige studierte Volkswirtschaftslehre an der Universität Bonn und arbeitete viele Jahre beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin, zuletzt als Leiter der Konjunkturabteilung. Längere Forschungsaufenthalte absolvierte er in Großbritannien und in den USA. Unter den Wirtschaftswissenschaftlern gilt er als "der letzte Keynesianer".

Professor Michael Hüther, Jahrgang 1962, rückte im Sommer 2004 an die Spitze des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln. Nach dem Studium der Wirtschaftswissenschaften sowie Mittleren und Neueren Geschichte in Gießen blieb er zunächst als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Hochschule, 1991 wechselte er in den Stab des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (SVR), von 1995 bis 1999 leitete er als Generalsekretär den wissenschaftlichen SVR-Rat. Anschließend heuerte er als Chefvolkswirt bei der Deka-Bank in Frankfurt am Main an. Hüther ist Botschafter der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft.

sueddeutsche.de: Herr Professor Horn, mitten im Finanzcrash haben Sie vor drei Monaten erklärt: "Der Aufschwung ist vorbei." Nun aber ist die deutsche Wirtschaft im ersten Quartal um beachtliche 1,5 Prozent gewachsen. Haben Sie sich geirrt?

Gustav Horn: Ich fürchte nicht. Es war eine Frage des Zeitpunkts. Auch unser Institut hatte noch ein Aufschwungquartal gesehen, wenn auch nicht so stark, wie es sich herausgestellt hat. Bei den Zahlen ist aber höchste Vorsicht geboten: Aus dem Ausland kommen kaum noch Impulse, und wegen des ausgefallenen Winters ist der Bau exorbitant gut gelaufen.

Michael Hüther: Wir würden auch heute nicht sagen: "Der Aufschwung ist zu Ende" - selbst wenn die Dynamik der Gesamtwirtschaft schwächer wird. Auf das Jahr gerechnet könnte ein Wachstum von gut zwei Prozent herauskommen, das ist doch sehr robust. Gleichwohl: Die Risikowolken werden dunkler - zum einen wegen des hohen Ölpreises, zum anderen wegen der rezessiven Entwicklung in den USA.

sueddeutsche.de: Rund um den Standort Deutschland gibt es derzeit heftige Diskussionen über den Preis für Arbeit - also um den Lohn für einfache Arbeitnehmer und das Salär für Manager. Herr Hüther, Sie haben für das Land bereits eine Art "Gerechtigkeitsfieber" diagnostiziert. Ist da aus Ihrer Sicht Schaden zu vermelden?

Hüther: Ich möchte nicht "Schaden" sagen. Irritierend ist, dass wir in der vergangenen Zeit auf dem Arbeitsmarkt Beschäftigung aufgebaut haben - und wir nun über Gerechtigkeit im Sinne von Umverteilung streiten. Ich fürchte dabei um die Tarifautonomie. Natürlich wirft die zum Teil negative Entwicklung bei Reallöhnen Fragen auf. Aber da müssen wir nicht nur über Lohnpolitik reden, sondern über den Steuer- und Abgabenstaat.

Horn: Moment. Nicht die Debatte ist pathologisch, sondern der Befund. Es ist außergewöhnlich, wenn nicht einzigartig, dass in zwei Aufschwungjahren die Reallöhne zurückgegangen sind. Es kann nicht sein, dass insgesamt das volkswirtschaftliche Einkommen wächst - und bei den privaten Haushalten immer weniger ankommt. Das ist pathologisch. Es gibt zwei Profiteure dieses Aufschwungs: Das sind in erster Linie die Unternehmen, die ihre Gewinne massiv ausgedehnt haben - darüber müsste man sprechen. Man redet aber nur über den Staat, den zweiten Profiteur.

Lesen Sie weiter, warum Gewerkschaften bei Tarifverhandlungen gleich doppelt unter Druck standen.

sueddeutsche.de: Haben die Gewerkschaften am Ende schlecht verhandelt?

Horn: Sie haben herausgeholt, was herauszuholen war. Die Gewerkschaften standen ja massiv unter Druck: Von den Firmen - und von der Politik, die Druck auf Lohnzurückhaltung ausgeübt hat.

Hüther: Man muss sich das nach Branchen anschauen. In der Metall- und Elektroindustrie oder im Bereich Chemie, die im harten internationalen Wettbewerb stehen, haben wir hohe Gewinnzuwächse und auch höhere Löhne. Doch der Staat greift bei den Steuern und Sozialabgaben wieder viel ab - 52 Prozent bei einem Alleinstehenden mit durchschnittlich 40.000 Euro Bruttoeinkommen. Bundesfinanzminister Peer Steinbrück sagt sogar, es müsste kräftige Lohnerhöhungen geben - damit er dann daran gewinnt. Das halte ich für inakzeptabel.

Horn: Es stimmt zwar, dass sich die Löhne in der Exportindustrie sehr gut entwickelt haben - aber ihre Entwicklung entsprach nicht den starken Gewinnsprüngen dieser Branchen.

Hüther: Es gibt auch kein Gesetz, dass dies so sein muss.

Horn: Dann aber geht die Rechnung am Ende nicht mehr auf - dann geht der Anteil der Löhne am Volkseinkommen eben wie geschehen zurück. Und wenn Sie in Ihre Rechnung die Sozialabgaben einbeziehen, dann muss man auch sagen, dass die Menschen - über die Rente zum Beispiel - auch wieder etwas zurückbekommen. Das Geld verschwindet nicht.

Hüther: Der Bundesfinanzminister ist ein ganz großer Künstler darin, Geld zwischen dem Steuertopf und den Beitragseinnahmentopf hin und her zu schieben. Das ist ein System kommunizierender Röhren.

sueddeutsche.de: Die CSU hat ein erstes Konzept präsentiert, mit dem die Steuern sinken sollen - angeblich ein Beitrag zu mehr Gerechtigkeit. Ist dies mehr als eine Art Impulsreferat, um die nächsten bayerischen Landtagswahlen im September zu gewinnen?

Hüther: Wir können nicht ein Steuersystem einfach weiterfahren, das den Bürgern immer mehr Geld aus der Tasche zieht, weil von jedem zusätzlich verdienten Euro proportional mehr abgegeben werden muss. Diese Effekte der sogenannten Kalten Progression müssen den Steuerzahlern zurückgegeben werden - das sind rund zehn Milliarden Euro.

Horn: Man kommt so sicherlich nicht auf jene 28 Milliarden Euro an Steuerentlastung, die CSU-Chef Erwin Huber vorschlägt. Zunächst muss man festhalten, dass die Steuerlast über die letzten sieben, acht Jahre gesunken ist. Durch die Steuerreform des Jahres 2000 wurde der Spitzensatz stark gesenkt und der Steuertarif sehr gestaucht - die Menschen kommen so schneller in die höheren Progressionsstufen.

Hüther: Wir sollten nicht vergessen, dass wir die massiven Steuererhöhungen zum 1. Januar 2007 - zum Beispiel bei der Mehrwertsteuer - einfach so auf die Ausgabenseite des Staates durchgereicht haben. Diese hohen Staatsausgaben sind irgendwie immer sakrosankt.

Horn: Da ist konsolidiert worden.

Hüther: Unter Herrn Steinbrück ist nichts konsolidiert worden - nur unter Herrn Eichel. Der Bund zahlt immer noch rund 55 Milliarden Euro an Subventionen.

Horn: Eichels Politik hat unsere Wirtschaft über Jahre belastet. Was Sie vorschlagen, ist die Fortsetzung davon. Gerade zu Beginn der großen Koalition haben die Mehrausgaben unter anderem dazu beigetragen, dass der Aufschwung in Gang kam.

Hüther: Das waren Peanuts!

sueddeutsche.de: Wie wichtig wären derzeit staatliche Ausgabenprogramme, um die Nachfrage zu stimulieren? Herr Horn, Sie haben ja schon vor Jahren ein Investitionsprogramm für Kommunen gefordert.

Horn: Im Moment brauchen wir das nicht. Unser Institut plädiert derzeit in einer Alleinstellung für einen weiteren Konsolidierungsprozess mit Schuldenabbau - weil man eben im Aufschwung konsolidieren muss, und nicht in einer Schwächephase.

Hüther: Es würde zu einer ganz anderen Anreizwirkung führen, wenn der Grenzsteuersatz sinken würde. Dann bliebe auch etwas von den Lohnerhöhungen.

Lesen Sie weiter, warum Aktienoptionen für Manager kein geeigneter Anreiz sind - und warum Porsche-Chef Wiedeking 60 Millionen Jahresgehalt "verdient" hat.

sueddeutsche.de: Tatsache ist, dass der Unterschied zwischen Arm und Reich immer größer wird. Ist ein zusätzlicher Steuersatz für gutbezahlte Manager notwendig, den der DGB-Chef Michael Sommer ins Spiel bringt?

Hüther: Wir haben doch schon eine hoch wirksame Umverteilung! Die oberen zehn Prozent der Einkommenssteuerzahler zahlen 55 Prozent des gesamten Steueraufkommens, die unteren 25 Prozent gerade einmal 0,3 Prozent! Das gibt es nichts nachzujustieren.

Horn: Die Anteile der Steuern kommen ja dadurch zustande, weil die Einkommen so hoch sind.

Hüther: Als Ökonom kann ich mich nicht zu Verteilungszielen äußern. Die gibt die Gesellschaft vor. Ich kann nur auf die Folgen hinweisen: Alles würde darauf hinauslaufen, den Spitzensteuersatz von momentan 45 Prozent wieder anzuheben - das ist mit Blick auf die internationale Wettbewerbssituation kontraproduktiv.

Horn: Die Verteilung von Einkommen und Vermögen wird in Deutschland zunehmend ungleicher. Das hat eben mit den pathologischen Lohnentwicklungen zu tun, aber auch mit der Entlastung der oberen Einkommen durch die Steuerpolitik. Viele Menschen fühlen jetzt: Dieses System ist nicht gerecht. Wenn man das so sieht, dann muss der Staat auch handeln. Ich hätte nichts gegen eine maßvolle Anhebung des Spitzensteuersatzes einzuwenden.

sueddeutsche.de: Der luxemburgische Ministerpräsident Jean-Claude Juncker hat bei den goldenen Handschlägen für geschasste Manager "skandalöse Tendenzen" ausgemacht. Die EU-Finanzminister denken wie die SPD daran, Managerabfindungen von einer Million Euro an nicht mehr als Betriebsausgabe gelten zu lassen. Ein ökonomisch sinnvoller Eingriff?

Hüther: In unserem System gilt: Jedes Einkommen wird einmal besteuert. Wenn nun ein bestimmter Teil der Gehälter nicht mehr als Betriebsausgabe abzusetzen ist, dann bedeutet dies, dass sie zweimal besteuert werden. Eine Unwucht! Es geht um Fragen der Corporate Governance, die in den Unternehmen zu lösen sind. Da sind doch womöglich in einzelnen Unternehmen Dinge schief gelaufen, und in deren Aufsichtsräten sitzen ja auch Gewerkschafter. Was ist da nicht gesehen worden? Ich glaube, dass Aktienoptionen für Manager Fehlanreize sind - weil sie Aktionen befördern, die nicht langfristig den Unternehmenserfolg sichern. Zehn Prozent Festgehalt und 90 Prozent variable Vergütung entspricht nicht dem unternehmerischen Risiko.

sueddeutsche.de: Das vermutliche Jahreseinkommen von 60 Millionen Euro für Porsche-Chef Wendelin Wiedeking entsteht aber gerade über Boni.

Hüther: Er hat ein hohes persönliches Risiko getragen, er hat den Laden nach vorne gebracht. Und an diesem Laden partizipieren nun ganz viele, die einen tollen Job haben und hohe Gehälter bekommen.

Horn: Auch Arbeitnehmer tragen hohe persönliche Risiken. Wenn Fehlentscheidungen des Managements das Unternehmen in Gefahr bringen, sind die Arbeitnehmer in der Regel erheblich stärker davon betroffen als das Management, das auf Vermögen zurückgreifen kann. Der Arbeitnehmer sitzt womöglich mit Hartz IV da - das ist wirklich ein Risiko. Aber sicher, es ist erst einmal Sache der Unternehmen selber, hier zu korrigieren.

Lesen Sie weiter, warum Mindestlöhne kein Allheilmittel sind - und warum der Republik keine Stagflation wie in den siebziger Jahren droht.

sueddeutsche.de: Bei den Managerabfindungen geht es um Obergrenzen für Einkommen, beim Mindestlohn um Untergrenzen. Sie, Herr Horn, haben den allgemeinen Mindestlohn einmal als "Notfallmedizin" bezeichnet. Eine Übertreibung?

Horn: Fragen Sie einmal die Arbeitnehmer vor allem im Osten Deutschlands, wie es ihnen ohne Mindestlohn geht! Wirtschaftlich sicher sehr schlecht - insofern besteht der Notfall weiter.

sueddeutsche.de: Und dann soll eine verpflichtende Untergrenze für Löhne helfen?

Horn: Das ist sicherlich nicht das Mittel der ersten Wahl, das man sich wünscht. Auch ich wünsche mir Flächentarifverträge, bei denen beide Seiten mit gleicher Macht Lohnabschlüsse finden, die wieder etwas mit der Produktivität zu tun haben. Das war der Zustand der Bundesrepublik bis Mitte der neunziger Jahre. Seitdem müssen wir feststellen, dass diese idealen Tarifverhandlungsstrukturen durchlöchert sind, besonders in Ostdeutschland. Da ist eine Lohnspirale nach unten in Gang gekommen. Und wenn dann die neuen Sozialgesetze vorsehen, dass ein minimaler Lohn in Verbindung mit Hartz IV zum Kombilohn wird, dann beteiligt sich der Staat auch noch an der Lohndrückerei. Vor diesem Hintergrund bin ich für einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn. Die Politik, insbesondere die Union, hat versagt.

Hüther: Wenn die Gesellschaft einen solchen Mindestlohn will, hat er für die Tarifautonomie immerhin eine viel schwächere Eingriffswirkung als das derzeit diskutierte "Entsendegesetz" für einzelne Branchen. Das ist wirklich eine Kulisse für mögliche Interventionen des Staates; die Tarifautonomie würde ausgehöhlt. Ich sehe allerdings keinen Befund, der zu dem Instrument Mindestlohn zwingend führt. Friseurgeschäfte in Erfurt oder Eisenach stünden bei einem Mindestlohn von 7,50 Euro vor der Existenzfrage - und müssten ihren Laden zumachen.

Horn: Wer schneidet dann die Haare in Erfurt?

Hüther: Das kann man zum Teil auch zu Hause machen. Untersuchungen aus Frankreich und den USA zeigen, dass es zum Verlust von Arbeitsplätzen kommt.

Horn: Selbst die negativsten Studien zeigen nur minimale Jobverluste. Und es gibt genauso viele Studien, die einen minimalen Gewinn an Beschäftigung ermitteln.

sueddeutsche.de: Der SPD-Fraktionsvorsitzende Peter Struck hat 2008 als "Jahr der Arbeitnehmer" ausgerufen. Drohen Zustände wie in den siebziger Jahren, als sich Inflation und Lohn hochschaukelten und am Ende die Wirtschaft lähmten - in einer Stagflation?

Horn: Damals gab es im öffentlichen Dienst zehn Prozent mehr Lohn - davon sind wir nun wirklich weit entfernt. Auch die Inflationsraten machen mir keine großen Sorgen. Wir erwarten für 2008 einen durchschnittlichen Lohnzuwachs von 2,5 Prozent - das dürfte etwas über der Inflation liegen. Bleibt also ein kleiner Reallohnzuwachs.

sueddeutsche.de: Der Chef der Europäischen Zentralbank, Jean-Claude Trichet, mahnt freilich moderate Tarifabschlüsse an - damit die Konjunktur nicht gefährdet wird.

Hüther: Die EZB ist momentan richtig aufgestellt. Sie nimmt Geschäftsbanken und Privatbanken nicht aus ihrem Risiko, sorgt aber für funktionierende, liquide Märkte. Was sie nicht macht, ist eine Politik der aggressiven Zinssenkungen - weil sie die Frage einer sonst drohenden Inflation sehen muss.

Horn: Es ist eine importierte Inflation, die über höhere Rohstoffpreise nach Deutschland kommt - und keine, die durch übermäßige Lohnzuwächse im Inland erzeugt wurde. Deshalb ist es für die Zentralbank so schwer, diese Inflation zu bekämpfen. Momentan bezahlen Leute für diese Inflation, die gar nichts dafür können - das ist unser Problem. Deshalb bin ich mit der EZB unzufriedener als Sie, Herr Hüther. Bei dieser Inflation und den ganzen Belastungen, die auf unsere Wirtschaft zukommen, zahlen Firmen, die einen Bankkredit aufnehmen, einen höheren Zins, als sie eigentlich sollten.

Hüther: Die Notenbank ist mit ihrem Leitzins von vier Prozent on hold. Es gibt wirklich keine Indikatoren für eine Kreditklemme. Das Problem sind die Geschäfte zwischen den Banken - diese hält die EZB ständig mit ihren Maßnahmen in Gang.

Lesen Sie weiter, warum über den Erfolg der Agenda 2010 auf dem Arbeitsmarkt gestritten wird - und über welche politische Entscheidung die Geschichte hinweggehen könnte.

sueddeutsche.de: Bundespräsident Horst Köhler hat auf den weltweiten Finanzmärkten regelrechte "Monster" entdeckt, die in die Schranken gewiesen werden müssten.

Hüther: Ich weiß nicht, wo er sie entdeckt hat. Bei der Krise auf den Finanzmärkten handelt es sich um das Versagen nationaler Regulierungssysteme. Diese US-Hypothekenkredite, die so viel Unheil angerichtet haben, hätte ein Bürger mit geringen Einkommen hierzulande gar nicht erst bekommen. Und dann wurden diese faulen Kredite in irgendwelche neue Papiere gebündelt und zerlegt. Diese Industrialisierung hat jedoch auch die Risiken zerlegt.

Horn: Die Probleme sind ja nicht völlig neu. Auch der Aufschwung Ende der neunziger Jahre ist über die Krise an den Kapitalmärkten zu Ende gegangen. Ich wünschte mir, Herr Köhler hätte schon als Geschäftsführender Direktor des Internationalen Währungsfonds entdeckt, dass es da Probleme gibt. Ob er das dann als "Monster" bezeichnet hätte? Herr Köhler hat ja über Jahre hinweg die Meinung vertreten, man müsste die Kapitalmärkte weitgehend deregulieren. Insofern begrüße ich den Erkenntnisgewinn des Bundespräsidenten.

sueddeutsche.de: Wie müsste das internationale Finanzsystem reguliert werden?

Horn: Wir müssen unsere Regulierungsbehörden in Ordnung bringen. In Deutschland gibt es gleich mehrere Aufsichtsorgane, in Europa jedoch kein einziges! Die fehlende europäische Aufsicht ist aus meiner Sicht ein Skandal.

Hüther: Was wir jetzt beobachten, ist in gewisser Weise auch die Folge einer gewissen Form ökonomischen Denkens - nämlich eines Denkens ohne Institutionen.

Horn: In der neoklassischen, neoliberalen Welt kommt Unsicherheit nicht vor - nur Risiko. Wie Wirtschaft und Politik aber mit Unsicherheiten umgehen sollen, dazu bietet dieses Denksystem nichts, einfach nichts. Das Modell ist instabil. Und doch wird es an den meisten deutschen Universitäten nach wie vor gelehrt.

sueddeutsche.de: Auf dem US-Hypothekenmarkt haben sich nicht nur Großinstitute wie Citigroup oder Deutsche Bank verspekuliert, sondern auch unscheinbare Akteure wie die Sächsische Landesbank oder die Mittelstandsbank IKB. Dummheit oder Größenwahn?

Hüther: Das Entscheidende ist das Geschäftsmodell. Ich will der Sachsen LB nicht zu nahe treten, aber wenn die eigene Story nicht so sexy ist, dann lässt man sich halt auf so manche Dinge ein.

Horn: Es kamen mehrere Dinge zusammen. Zum einen die verzweifelte Suche nach Geschäftsfeldern, gerade bei den Landesbanken - sowie natürlich die falsche Wahrnehmung, durch die Restrukturierung von Risiken beseitige man die Risiken selbst. Durch das Verteilen der Risiken ist die Ansteckungsgefahr gestiegen, das macht die Unsicherheit global so groß.

Hüther: Das ist wie bei einem abgestandenen Kakao: Unten hat sich das ganze Pulver abgesetzt, was ein bisschen unappetitlich wirkt. Wenn man diesen Kakao schön umrührt, sieht er wieder ganz apart aus, obwohl es noch immer dasselbe Getränk ist.

sueddeutsche.de: Herr Hüther, Herr Horn, eingangs sprachen wir über die relativ starke Konjunktur in Deutschland. Inwieweit ist das Reformwerk Agenda 2010 der alten rot-grünen Bundesregierung unter Gerhard Schröder hierfür verantwortlich?

Hüther: Der Impuls für den Aufschwung kam eindeutig vom Export, vom Welthandel her. Bei der Verstärkung dieses Effekts sehen wir einen klaren Beitrag der Wirtschaftspolitik - das hat zu rund einem Drittel zur guten Entwicklung beigetragen. Das kann man "Reformdividende" nennen, wie es die Fünf Weisen in ihrem Sachverständigen-Jahresgutachten getan haben.

Horn: Widerspruch! Die Agenda 2010 hat den Aufschwung verzögert! Im Aufschwung selbst sehen wir minimale positive Effekte bei der Zahl der Arbeitsstunden. Ohne die Agenda 2010 wäre die Wirtschaft insgesamt besser gelaufen.

Hüther: Da bin ich völlig anderer Meinung. Wir haben am Arbeitsmarkt einen Rückgang der Arbeitslosigkeit - und damit eine Entwicklung, die es vorher nicht gab. Der Aufschwung ist in seiner Qualität ganz anders zu bewerten als 1999/2000. Die Beitragssenkung zur Arbeitslosenversicherung ist ein wichtiger Schritt gewesen.

sueddeutsche.de: Wie gefährlich ist es, wenn die Politik über populäre Einzelmaßnahmen wie die außerplanmäßigen Rentenerhöhungen in die wirtschaftliche Mechanik eingreift?

Hüther: Ich halte es für unverantwortlich, dass man ein justiertes System destabilisiert für einen kurzfristigen politischen Effekt, so wie es jetzt bei der Rente geschieht.

Horn: Sie sagen "destabilisiert", weil Sie annehmen, dass die außerplanmäßige Rentenerhöhung in den Jahren 2010/2011 nicht wieder verrechnet wird. Damit unterstellen Sie der Politik, dass sie sich nicht an die eigenen Vorgaben hält ...

Hüther: ... es wäre ja das erste Mal, wenn sie es täte. Oder vielleicht das zweite Mal.

Horn: Das dürfen Sie gerade nicht sagen - bei all den Arbeitsmarktreformen der vergangenen Jahre. Was wollen Sie noch mehr an unpopulären Maßnahmen? Man hat jetzt den Rentnern einen kleinen, eher symbolischen Beitrag gegeben - die Geschichte wird darüber hinweggehen.

sueddeutsche.de: Herr Horn, Herr Hüther, vielen Dank für das Gespräch.

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