Wenn Bundeswirtschaftsminister über das große Ganze reden, berufen sie sich gerne auf Ludwig Erhard. Der CDU-Politiker mit der Zigarre, der von 1949 bis 1963 das Ressort führte und als Verkörperung des deutschen Wirtschaftswunders gilt, ist für viele Konservative und Liberale ein Vorbild geblieben. Als Sozialdemokrat kommen für Sigmar Gabriel solche Anleihen natürlich nicht so schnell infrage. Niemals würde sich der Wirtschaftsminister wie sein Vorvorgänger Rainer Brüderle (FDP) mit Erhards Buch "Wohlstand für alle" und Zigarre für eine Zeitung ablichten lassen. Als der Vize-Kanzler nun Anfang der Woche, ausgerechnet im Walter-Eucken-Institut, bei den Hütern von Erhards Erbe in Freiburg, eine ordnungspolitische Grundsatzrede hielt, rückte er aber so nah an die Ideen des Mannes mit der Zigarre heran, dass das Handelsblatt frohlockte: "Gabriel gibt den Erhard".
Nur was ist überhaupt sozialdemokratische Wirtschaftspolitik? Eigentlich weiß dies keiner so ganz genau. Deshalb kann nur einer die Lücke füllen - Gabriel, und der hat dabei vor allem eines im Auge: Er will die Partei, die trotz gehaltener Wahlversprechen wie der Einführung des Mindestlohns, der Mietpreisbremse oder der Rente ab 63 bei Wahlumfragen im 25-Prozent-Graben festsitzt, wieder in Richtung 30 Prozent führen.
Von Firmen hat der Minister gelernt, dass es eine "unglaubliche sinnlose Bürokratie" gibt
Es geht dabei um ein waghalsiges Kunststück: Der SPD-Chef würde gern einerseits die SPD mehr in die "arbeitende Mitte" ziehen, zu den "Menschen, die hart arbeiten und sich an die Regeln halten", wie es der amerikanische Präsident Bill Clinton formulierte. Er will den Leuten zeigen, dass auch die Sozis mit dem Geld des Steuerzahlers umgehen können, die Sorgen der kleinen und mittelständischen Unternehmen verstehen und für die neuen Gründer in der digitalen Wirtschaft da sind. Andererseits will er dabei seine Partei nicht verlieren, die sich nach der Ära Gerhard Schröder und den Hartz-Reformen gerade wieder mit sich selbst versöhnt, jedoch linker als der Parteichef und erst recht als die Merkel-Wähler tickt. Bei Gabriels Rede in Freiburg konnte man nun eine Ahnung davon bekommen, wie sich der Wirtschaftsminister das so vorstellt.
Da gibt es zum Beispiel den Begriff "neoliberal". Mit diesem Etikett werden häufig diejenigen gebrandmarkt, die den Markt schalten und walten lassen wollen, ohne Eingriffe des Staates. Für Gabriel ist dies eine eigentümliche Umdeutung. Er erinnert daran, dass Walter Eucken, einer der Vordenker für Erhard, sich selbst als "Neoliberalen" sah, aber gegen einen Laissez-Faire-Kapitalismus anschrieb. "Er wollte keinen Nachtwächterstaat, der eine Klassengesellschaft der Vorrechte und Privilegien und eine Wirtschaft der Monopole und Kartellabsprachen bewacht", sagt Gabriel.
Für den Wirtschaftsminister findet sich in Euckens Vorstellungen von Ordnungspolitik nach wie vor viel Nützliches, um Probleme von heute zu lösen. Der SPD-Chef denkt dabei an das "wuchernde Verordnungswesen, an dem Kafka seine helle Freude gehabt hätte". Gabriel kennt das von Unternehmensbesuchen, wo ihm Firmenchefs immer wieder davon berichten, was es für sinnlose Bürokratie gibt.
Dem Vizekanzler fällt dazu auch der Datenmarkt ein. Autos, Maschinen, Chemie und Pharmazie hätten den Industriestandort Deutschland "stark und stolz gemacht". Sie seien der "Goldstandard unserer Leistungsfähigkeit". Inzwischen seien aber die Daten zur Goldgrube geworden, "mit der in der Internetökonomie bezahlt und gehandelt wird". Dafür gebe es jedoch noch "keine angemessenen Regeln". Was also tun?
Gabriel probiert auch hier die Gratwanderung: Ja, sagt er, es sei gut, dass die Europäische Kommission die Marktmacht von Google untersucht, das 95 Prozent des Suchmaschinenmarktes im Griff hat. Man dürfe über den Datenmarkt aber "nicht mehr in den alten Kategorien des Verbraucher- und Datenschutzes sprechen". Kunden müssten selbst entscheiden, "wem sie in welchem Ausmaß und wie lange eigene Daten zur Verfügung stellen".
Gabriel hatte schon zu Beginn seiner Amtszeit in einem Brief an seine Ressortkollegen angekündigt, das "alte Denken" überwinden zu wollen. Staat oder Markt - das ist für ihn eine ideologisch aufgeladene "Politik der falschen Alternativen". Gabriel will stattdessen einen Ausgleich finden zwischen Staat und Wirtschaft. Deshalb macht er sich jetzt für das Bürokratieabbaugesetz stark. Der ehemalige Umweltminister räumt ein, dass Deutschland in der Energiewende "mehr Markt" braucht. Er hält weiter an dem Freihandelsabkommen TTIP fest. Für viele Genossen ist das Teufelswerk. Der Vizekanzler sieht darin die Chance, dass Europa und die USA weltweit vorbildliche Standards für freie Märkte, den Schutz der Umwelt, der Arbeitnehmer und der Verbraucher setzen.
Zwischen Staat und Wirtschaft auszugleichen, das heißt für Gabriel auch, Widerstände zu kanalisieren und alte Kontrahenten zusammenzubringen. Er hat mit der IG Metall und dem Industrieverband BDI ein "Bündnis für Industrie" angestoßen. Er hat den TTIP-Beirat ins Leben gerufen, in dem sich Gewerkschaften, Umwelt- oder Verbraucherschutzverbände Gehör verschaffen können. Und eine von ihm bestellte Kommission durfte ein Programm zur Lösung des Investitionsstaus vorlegen.
Gabriel weiß, dass seine Partei die Bundestagswahlen 2013 auch deshalb verloren hat, weil ihr die Wähler zu wenig Wirtschaftskompetenz zutrauen. Die SPD soll wieder für jene Mehrheit attraktiv werden, für die der Mindestlohn im Alltag keine Bedeutung hat, weil sie schlichtweg (viel) mehr verdienen. Deshalb poltert der Wirtschaftsminister auch mal gegen Athen los und versichert den Wählern draußen, dass die Kanzlerin bestimmt nichts unterschreiben werde, "bei dem in Deutschland Arbeitnehmer und Rentner dafür noch mehr bezahlen müssen".
Seine Partei muss Gabriel aber noch umerziehen. Kompetent in Wirtschaftsfragen waren für die Mehrheit der Wähler nur SPD-Politiker, die mit sozialdemokratischen Traditionen brachen: Karl Schiller, Helmut Schmidt oder Gerhard Schröder.