Süddeutsche Zeitung

Grundrente:Die Altersarmut kommt

Höchste Zeit, dass sich die Bundesregierung auf die Grundrente einigt. Denn künftig werden deutlich mehr Bundesbürger im Alter wenig Geld haben. Was SPD und Union nun machen müssen.

Kommentar von Alexander Hagelüken

Deutschlands Tafeln, die 1,5 Millionen Menschen mit Essen versorgen, senden jetzt eine Warnung: Vergangenes Jahr nahm die Zahl der ergrauten Kunden sprunghaft zu - um ein Fünftel. "Altersarmut wird uns in den kommenden Jahren mit einer Wucht überrollen, wie man es heute nur vom Klimawandel kennt", fürchtet der Tafel-Vorsitzende Jochen Brühl. Angesichts solcher Entwicklungen ist es gut, dass die Bundesregierung auf eine Einigung bei der Grundrente zusteuert. Eine Friseurin, die ihr Leben lang für den halben Durchschnittslohn Haare schnitt, kann dann mit 1000 Euro Rente statt Alters-Hartz-IV rechnen. Zur Wahrheit gehört jedoch auch: Es braucht noch mehr Maßnahmen, um Altersarmut zu verhindern.

Die Grundrente wirkte in den vergangenen Monaten wie das Paradebeispiel dafür, dass die große Koalition keine Zukunft hat. SPD und Union stritten hingebungsvoll, aus sachlichen, aber besonders aus taktischen Gründen. Die SPD hat mit dem geplanten Zuschuss für drei Millionen Niedrigrentner ein massentaugliches Thema entdeckt, mit dem sie sich von CDU/CSU sozial abheben kann. Weil der Union ein eigenes Rentenkonzept fehlt, reagierte sie auf den Vorstoß sichtlich panisch.

Diese taktischen Erwägungen überdeckten die Sachdifferenzen, die es auch gibt. Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) wollte auf eine Bedürftigkeitsprüfung verzichten, um keinen Senior abzuschrecken. Jeder dritte berechtigte Ältere beantragt heute nicht Hartz IV, weil er sich vor dem Gang zum Amt schämt. Die Union wiederum wandte ein, dass es ohne jede Prüfung sehr teuer wird, weil übermäßig die Falschen profitieren. Beide Seiten haben einen Punkt.

Wenn nichts geschieht, ist in 20 Jahren jeder fünfte alte Mensch von Armut gefährdet

Lässt man das Parteitaktische außen vor, erschien immer ein Kompromiss möglich: Das Einkommen prüfen, damit vor allem jene Grundrente bekommen, die sie wirklich brauchen - aber ohne abschreckende Ausforschung jedes ersparten Euros. Lassen Union und SPD die Taktik im Schrank, können sie sich nun in ihrer Arbeitsgruppe auf so einen Kompromiss verständigen. Dann bekommt keine Friseurin Grundrente, deren Ehemann hohe Altersbezüge hat oder die selbst nennenswerte Mieteinnahmen kassiert - eine sinnvolle Einschränkung. Forscher von DIW und Bertelsmann-Stiftung errechneten gerade, dass sonst viele Senioren mit höheren Einkünften profitieren würden.

Ohne Widersprüche ist die Grundrente leider auch dann nicht, wenn nun der notwendige Kompromiss gelingt. Den Rentenaufschlag soll nur bekommen, wer 35 Jahre Beiträge in die gesetzliche Alterskasse nachweist. Wer nur 29 oder 34 Jahre hat, bleibt in der Grundsicherung, also Alters-Hartz hängen - obwohl er lange arbeitete. Darüber sollte die Regierung noch mal nachdenken.

So oder so wäre es wichtig, endlich die Grundrente einzuführen, an der die beiden vorherigen Regierungen scheiterten. Die Altersarmut nimmt zu. Es gehen in nächster Zeit mehr Alleinerziehende, Geringverdiener und Ostdeutsche mit langer Arbeitslosigkeit in den Ruhestand. Gesellschaftlicher Wandel, zunehmende Ungleichheit und schwindende Verhandlungsmacht der Arbeitnehmer wirken sich für sie direkt aus. Wenn nichts geschieht, wird in 20 Jahren mehr als jeder fünfte alte Mensch armutsgefährdet sein, also nach heutigen Werten über weniger als 900 Euro im Monat verfügen.

Andere Industrieländer haben längst eine Grundrente. Deutschland braucht sie auch. Noch besser als die nachträgliche Reparatur von Altersarmut wäre allerdings, vorzubeugen. Mehr Qualifikation, stärkere Gewerkschaften und mehr Berufschancen für Mütter bewirken, dass Altersarmut erst gar nicht entsteht.

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Quelle:
SZ vom 21.09.2019
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