Süddeutsche Zeitung

Gründer:Auf nach Berlin

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Die Szene ist hip, die Kosten sind relativ gering und es gibt mehr Angebote von Investoren. Nirgendwo in Deutschland gründen so viele ein Start-up wie in der Hauptstadt.

Von Tanja Koch

Berlin ist noch immer die erste Wahl für die Gründung eines Unternehmens. Neben vergleichsweise niedrigen Preisen und der hippen Atmosphäre finden Jungunternehmer hier auch leichter Zugang zu Risikokapitalgebern.

Bezogen auf 10 000 Einwohner im erwerbsfähigen Alter (18 bis 65 Jahre) wagten im vergangenen Jahr 163 Personen in der deutschen Hauptstadt den Weg in die Selbständigkeit. Das ergab eine Studie des Instituts für Mittelstandsforschung (IfM). National betrachtet sank die Anzahl der Existenzgründungen um 3,6 Prozent. Auch in den freien Berufen gingen die Zahlen erstmals zurück - nämlich um 4,5 Prozent. Lediglich in Berlin und Bundesländern wie Bremen, Mecklenburg-Vorpommern und im Saarland gab es 2018 mehr Unternehmensgründungen im Vergleich zu 2017. Beliebt bei Gründern sind Berlin, Hamburg, die Rhein-Main-Region, der Großraum München, Bonn, Köln und Düsseldorf. "Ein Grund dafür ist, dass Städte besonders dicht besiedelt sind und dort deswegen eine hohe Nachfrage und ein großer Arbeitskräftepool gegeben sind", erklärt Rosemarie Kay, stellvertretende Geschäftsführerin des Instituts für Mittelstandsforschung. Auch die Logistik und sonstige Infrastruktur sei in Ballungsgebieten besser. "Und nicht zuletzt bestehen dort mehr und größere Netzwerke, die von zunehmender Bedeutung sind."

Wer nicht in Berlin wohnt, zieht hin, um sich mit Vorbildern zu umgeben

Die Frage nach dem optimalen Standort stellten sich 2012 auch Tobias Balling, Niklas Jansen, Holger Seim und Sebastian Klein. Auf die Idee für ihr Unternehmen sind sie während ihrer Studienzeit in Marburg gekommen: Ein Start-up, das die Thesen von Sachbüchern in Kurztexten zusammenfasst. Innerhalb von je 15 Minuten können sich Nutzer so neues Wissen aneignen. Da ihnen die Rahmenbedingungen für Start-ups in Berlin am besten erschienen, zogen die vier in die Hauptstadt und gründeten Blinkist. "In Berlin gibt es viele andere Gründer, von denen wir lernen konnten, wie das alles funktioniert", erinnert sich Mitgründer Holger Seim. Dank regelmäßiger Events innerhalb der Start-up-Szene sei es leicht gewesen, sich ein Netzwerk aufzubauen.

"Wo es schon viele Gründungen gibt, gibt es einen sich verstärkenden Zirkel", erklärt Georg Licht, Gründungsforscher beim Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW). Wer erfolgreiche Gründer im Umfeld hat, probiert eine Geschäftsidee eher aus. Wer nicht dort wohnt, zieht hin, um sich mit Vorbildern zu umgeben.

Eine weitere Ursache für viele Gründungen in einer Stadt sind die Mieten. Zwar steigen die Immobilienpreise in Berlin so stark, dass dort kürzlich eine Mietpreisdiskussion ausbrach. Wie der Mietspiegelindex 2018 des Forschungsunternehmens F+B zeigt, liegen die Mieten in Berlin jedoch unter denen in anderen Millionenstädten wie München oder Hamburg. Neben den Preisen wirke sich auch die Kultur einer Stadt auf die Gründungsneigung aus. "Berlin ist hip, es ist hip, dort zu wohnen", sagt Licht. Hip und damit beliebt bei jungen Menschen ist die Stadt etwa dank ihrer multikulturellen Gesellschaft, ihrer bunten Restaurantszene und ihres Nachtlebens. Die Lebenshaltungskosten sind gering und dennoch ist die Stadt so attraktiv, dass viele qualifizierte Arbeitskräfte dort wohnen möchten.

Das Start-up Blinkist konnte dank dieser Standortfaktoren in den vergangenen eineinhalb Jahren die Anzahl der Mitarbeiter von 65 auf 130 erhöhen. Dass die Stadt so weltoffen ist und dass es "sich dort gut lebt", ziehe auch internationale Talente an. So arbeiten bei Blinkist Menschen, die erst kürzlich unter anderen aus Brasilien, Russland, Spanien und den USA nach Berlin gezogen sind. Von den niedrigen Preisen profitieren Start-ups aber nicht nur aus diesem Grund, sondern auch, weil sie dann niedrigere Löhne zahlen müssen: "Mit dem Geld, das wir hatten, sind wir in Berlin sehr viel weiter gekommen, als es in anderen Städten der Fall gewesen wäre", sagt der Mitgründer. In Berlin liegt das Durchschnittsgehalt laut einer Studie der Bundesagentur für Arbeit bei 3126 Euro, in München bei 4169 Euro.

Geht einem Start-up das Geld aus, ist es in Städten einfacher, an neues Geld zu kommen, wie Gründungsforscher Licht erläutert: "Die Finanzierungsangebote in Städten wie München oder Berlin sind besser. In Berlin gibt es viele Venture-Capital-Investoren und mehr Angebote von regionalen Banken." Venture Capital, auch Wagnis- oder Risikokapital genannt, ist eine Art von Beteiligungskapital, das Investoren meist innovativen, aber auch riskanten Unternehmen zur Verfügung stellen. Da trotz des Anstiegs in den vergangenen Jahren nur acht Prozent der Gründungen von Venture Capital profitieren, erklärt der Faktor laut Licht aber nur einen kleinen Teil der allgemeinen Gründungsneigung.

Blinkist gehört zu diesen wenigen Start-ups, die sich mit Venture-Kapital finanzieren. Das Unternehmen erhielt bisher rund 30 Millionen Euro. Dort zu gründen, wo die Investoren sitzen, hat sich offenbar gelohnt. "Die initiale Connection ist auf jeden Fall leichter, wenn man nah dran ist. In Berlin trifft man sich zum Beispiel unverbindlich auf einen Kaffee", erklärt Seim. Als gravierenden Nachteil, was die Finanzierung angeht, sieht der Blinkist-Gründer einen Standort auf dem Land oder in anderen Städten aber nicht. "Wenn man erst einmal dahin kommt, dass die Investoren auf einen aufmerksam geworden sind, ist es egal, wo das Unternehmen sitzt." In diesem Fall könnte das Start-up den Investoren zum Beispiel direkt einen Businessplan zukommen lassen und sich so "bewerben".

Internationale Gesellschaften, die auf Durchreise meist nur in Berlin haltmachen, geben oft vorher Bescheid, sodass man im Anschluss an eine erfolgreiche Kontaktaufnahme für einen Tag dazustoßen könne. Zudem gebe es auch Start-ups wegen derer die Investoren extra in andere Städte wie Köln und München fahren.

Doch nun steht der gute Ruf wieder auf dem Spiel

Dabei saßen bis vor einigen Jahren in München sogar mehr Venture-Capital-Gesellschaften als in Berlin. "Neben der hervorragenden wissenschaftlichen Infrastruktur gibt es auch aus diesem Grund dort so viele Hightech-Unternehmensgründungen", erklärt Georg Licht vom ZEW. Sie gelten als besonders riskant. Im Zuge des Gründungsbooms zwischen 2008 und 2010 in Berlin hat die Hauptstadt München bei der Zahl der Investoren und den investierten Mitteln überholt.

Inzwischen gibt es jedoch erste Befürchtungen, dass Berlin seinen Ruf als optimalen Gründungsstandort wieder verlieren könnte. Das liegt zum einen an den explodierenden Mietpreisen für Gewerbeimmobilien. Von 2014 bis 2018 sind sie nach Angaben der Immobilienberatung Colliers International um acht auf 21,70 Euro pro Quadratmeter gestiegen.

Ein weiterer Grund ist die Absage eines geplanten "Coworking-Space" in Kreuzberg. Google wollte dort ein altes Industriegebäude in ein Gründerzentrum verwandeln, das Start-ups Räume, finanzielle Unterstützung und Austausch mit dem Konzern bietet. 2018 wurde bekannt, dass das Projekt nach jahrelangen Anfeindungen gestoppt wird. Experten befürchteten, dass dies die Start-up-Hauptstadt in schlechtes Licht rücken und Investoren abschrecken könnte.

Blinkist-Gründer Seim glaubt nicht an dieses Szenario. Er sei sicher, dass Berlin eine der Start-up-Städte bleiben werde. "Wenn die Preise jetzt noch weiter steigen, könnte das das Moment natürlich umkehren. Dann würden die Talente an andere Standorte gehen." Berlin habe jedoch eine so starke internationale Strahlkraft, dass es momentan nicht danach aussieht.

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Quelle:
SZ vom 05.07.2019
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