Großbritannien:Warum die Wirtschaft den Brexit fürchtet

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Das Brexit-Risiko hält Finanzmärkte und Konzernzentralen in Großbritannien schon jetzt in Atem. (Foto: dpa; Bearbeitung: SZ.de)
  • Das britische Pfund verlor am Montag gegenüber dem Dollar binnen eines Tages so viel an Wert wie seit sieben Jahren nicht mehr.
  • Anlass sind die Brexit-Diskussionen, die am Finanzplatz London für Unsicherheit sorgen.
  • Bis zur Abstimmung am 23. Juni dürften die Ängste nicht abnehmen.

Von Björn Finke, London

Ein Mann erschüttert die Märkte: Das Pfund verlor am Montag bis zu 2,1 Prozent an Wert gegenüber dem Dollar. Klingt nicht wild, ist aber der größte Absturz an einem Tag seit sieben Jahren. Damals sank die Notierung wegen der Turbulenzen der Finanzkrise. Nun trägt ein exzentrischer, schlecht frisierter Londoner Schuld daran. Boris Johnson, Bürgermeister der Hauptstadt, verkündete, für einen Austritt Großbritanniens aus der EU zu werben. Weil Johnson einer der beliebtesten Politiker der Konservativen Partei ist, befürchten Devisenhändler offenbar, dass das Risiko eines sogenannten Brexit steigt.

Und die Unsicherheit wird anhalten. Erst in vier Monaten, am 23. Juni, stimmen die Briten darüber ab, ob ihr Königreich die Union verlassen soll. Das Datum legte Premierminister David Cameron, ein Parteifreund Johnsons, am Wochenende fest. Außerdem erklärte Cameron, er wolle nach den Zugeständnissen, die er auf dem EU-Gipfel erreicht habe, für den Verbleib trommeln: Der Wahlkampf hat begonnen.

Es ist eine Schicksalsfrage für Großbritannien und die Europäische Union. Zugleich werden das Auf und Ab in Meinungsumfragen, die Erfolge und Fehlschläge der Pro- und Kontra-Kampagnen Finanzmärkte und Konzernvorstände in Atem halten - ein Kontinent im Bann des Brexit.

Dutzende Vorstände warnen vor Gefahren des Brexit

Wirtschaftliche Argumente spielen im Wahlkampf eine wichtige Rolle. Cameron drohte im Fernsehen, ein Austritt könnte "Jobs kosten, und er könnte bedeuten, dass Unternehmen aus dem Ausland nicht in Großbritannien investieren". An diesem Dienstag werden Dutzende Vorstände von Firmen aus dem FTSE 100, dem Leitindex der Londoner Börse, in einem offenen Brief die Vorteile der EU preisen und vor den Gefahren eines Brexit warnen. Auch die deutschen Unternehmerverbände BDI und BDA werben für einen Verbleib des Königreichs in der Union.

Kein Wunder: Großbritannien ist die zweitgrößte Volkswirtschaft der EU und einer der wichtigsten Handelspartner der Bundesrepublik. Geschäfte und Investitionen über den Ärmelkanal hinweg sind problemlos möglich, dank der Mitgliedschaft in der EU. Würden sich die Briten im Referendum für einen Austritt entscheiden, wäre das Land nicht sofort draußen. Die britische Regierung hätte zwei Jahre Zeit, um mit Brüssel Regelungen für das Leben nach der Scheidung auszuhandeln.

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Während dieser schwierigen und vermutlich zähen Debatten wäre es unklar, welchen Bedingungen Handel und Investitionen in Zukunft unterliegen - schlecht für die Unternehmen, schlecht für das Wachstum. Die Sorge, dass dem Land diese Hängepartie bevorstehen könnte, ist der Grund für die Verluste beim Pfund. Die Ratingagentur Moody's stellte am Montag schon einmal klar, dass ein Sieg der Brexit-Fans im Juni negativ für die Bonitätsnote des Königreichs wäre, dass das Land also an Kreditwürdigkeit einbüßen könnte. Dies würde Darlehen verteuern.

Umfragen sehen mal die eine, mal die andere Seite vorn. Meinungsforscher erwarten allerdings, dass sich viele Unentschlossene am Ende für den Verbleib entscheiden - nicht aus Liebe zum europäischen Projekt, sondern weil Wähler Risiken scheuen. Trotzdem bezeichnet Moody's-Analystin Kathrin Mühlbronner den Ausgang des Referendums als "gänzlich offen". Und ein Austritt sei schädlich für die britische Wirtschaft.

Deshalb unterstützt die Mehrheit der Unternehmer Ihrer Majestät die Pro-EU-Kampagne. Wobei es in diesem Lager zugleich eine lautstarke Minderheit gibt, die für den Brexit trommelt. Das sind oft kleinere Betriebe, die wenig exportieren. Stattdessen beklagen sie sich über die Konkurrenz aus anderen EU-Staaten und über zu viel Regulierung aus Brüssel. Ausgerechnet bei dieser Schicksalsfrage für das Land ist die Wirtschaft also gespalten.

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Das zeigt sich auch bei den Reaktionen auf Camerons Ankündigung, für den Verbleib zu werben. Der größte Arbeitgeberverband CBI pries die Reformen, die der Premier in Brüssel erreicht hat, und sprach sich für die Mitgliedschaft aus. John Longworth, der Chef des britischen Handelskammer-Verbands, sagte dagegen, die Zugeständnisse der EU erfüllten die Erwartungen der Wirtschaft bei Weitem nicht. Es sei ungewiss, ob die Erklärungen rechtlich verbindlich seien. Unter anderem sicherten die anderen Regierungschefs Cameron zu, dass Banken aus jenen EU-Staaten, die nicht den Euro eingeführt haben, gegenüber Rivalen aus Euro-Ländern nicht benachteiligt werden dürfen - wichtig für die Finanzkonzerne in London.

Longworth kündigte an, sein Verband werde sich beim Thema Brexit neutral verhalten, da es in den Kammern keine klaren Mehrheiten gebe. Dort sind auch viele kleinere Firmen organisiert.

Londons Bürgermeister Boris Johnson tritt im Mai ab; die Bürger wählen einen Nachfolger. Der konservative Kandidat für den Posten, Zac Goldsmith, spricht sich genau wie Johnson für den Brexit aus. Damit stellen sich die beiden Politiker gegen die wichtigste Branche ihrer Stadt, die Banken und Versicherer. Deren Vertreter warnen, dass der Finanzplatz unter einem Austritt leiden würde - Banken könnten Abteilungen in Euro-Staaten verlegen. Michael Heseltine, lang gedienter konservativer Minister unter Margaret Thatcher und John Major, kritisiert Parteifreund Johnson darum scharf: Erfülle sich Johnsons Wunsch, würden "in Frankfurt und Paris ihm zu Ehren die Flaggen gehisst". Keine schöne Perspektive für einen Briten.

© SZ vom 23.02.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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