Arbeitskampf im Königreich:Großbritannien erlebt die größte Streikwelle seit Jahrzehnten

Arbeitskampf im Königreich: Streikende Mitarbeiter der Ambulanz in London. Das staatliche Gesundheitsdienst ist unterfinanziert.

Streikende Mitarbeiter der Ambulanz in London. Das staatliche Gesundheitsdienst ist unterfinanziert.

(Foto: HENRY NICHOLLS/REUTERS)

Krankenschwestern, Bahn-Angestellte und Grenzschützer fordern höhere Löhne. Doch die Regierung sagt, es fehle schlichtweg das Geld, um die Folgen der Inflation voll abzufedern.

Von Alexander Mühlauer, London

Wer in den vergangenen Tagen am Londoner Flughafen Heathrow landete, konnte bei der Passkontrolle eine durchaus angenehme Erfahrung machen. Da saßen keine allzu strengen Grenzschützer, sondern ziemlich entspannte Soldaten der britischen Armee. Sie mussten einspringen, weil die Border Force streikte. Doch bereits nach dem ersten Streiktag war klar: Die Soldaten machten das so gut, dass es zu keinen nennenswerten Problemen kam. Weder in Heathrow noch anderswo.

So reibungslos wie an den Flughäfen ging es allerdings längst nicht überall zu. Großbritannien erlebt in diesem Winter die größte Streikwelle seit den Achtzigerjahren. Nicht nur Grenzschützer sind in den Arbeitskampf gezogen, auch Angestellte von Post und Bahn, Krankenschwestern und Pfleger. Sie alle fordern höhere Löhne, um die gestiegenen Lebenshaltungskosten in den Griff zu kriegen. Die Inflationsrate liegt in Großbritannien mittlerweile bei gut zehn Prozent.

Die Regierung hat bereits klargemacht, dass es sich der Staat schlichtweg nicht leisten kann, den Beschäftigten des öffentlichen Dienstes eine Lohnerhöhung zu gewähren, die die Folgen der hohen Inflation voll abfedern würde. Für Premierminister Rishi Sunak stellt sich daher die Frage, wie er auf die Streikwelle reagieren soll - ohne dabei selbst zu sehr unter Druck zu geraten.

Arbeitskampf im Königreich: Hier wird nicht gestreikt: der britische Premier Sunak vor seinem Amtssitz in 10 Downing Street.

Hier wird nicht gestreikt: der britische Premier Sunak vor seinem Amtssitz in 10 Downing Street.

(Foto: NIKLAS HALLE'N/AFP)

Sunak hat bereits angekündigt, das Streikrecht einzuschränken. Ansonsten dürfte er sich vor allem von Meinungsumfragen leiten lassen. Denn das Verständnis für die Streiks fällt in der Bevölkerung je nach Branche unterschiedlich aus. So unterstützen die Britinnen und Briten mehrheitlich die Anliegen von Pflegern und Krankenschwestern. Dass hingegen Grenzschützer und Polizistinnen die Arbeit niederlegen, stößt auf weitaus weniger Zustimmung.

Vor den Notaufnahmen stehen die Krankenwagen Schlange

Politisch gesehen hat Sunak vor allem ein Problem: den unterfinanzierten staatlichen Gesundheitsdienst NHS. Dessen Krankenschwestern und Pfleger, die in Großbritannien als Heldinnen und Helden der Corona-Pandemie gelten, fordern 19 Prozent mehr Lohn. Die Regierung hält das für maßlos übertrieben, bislang bietet sie nur ein Plus von fünf Prozent. Die Fronten sind ziemlich verhärtet.

Es dürfte allerdings nur eine Frage der Zeit sein, bis die Regierung wieder an den Verhandlungstisch zurückkehrt. Denn gerade im Winter offenbart sich der teils katastrophale Zustand des Gesundheitssystems. Der Präsident des Verbands britischer Notfallmediziner, des Royal College of Emergency Medicine (RCEM), warnte bereits davor, dass aufgrund der schlechten Versorgungskapazitäten in der Notfallmedizin bis zu 500 Menschen pro Woche sterben könnten.

Die Lage ist schon jetzt äußerst angespannt. In diesem Winter gibt es überdurchschnittlich viele Influenza-Fälle, die in Krankenhäusern behandelt werden müssen. Auch die Zahl von Corona-Patienten in Kliniken steigt wieder an. Vor vielen Notaufnahmen stehen Rettungswagen Schlange, weil die Patienten nicht umgehend aufgenommen werden können.

Laut RCEM sind die Wartezeiten in diesem Winter so lange wie noch nie zuvor. Allein im November mussten demnach knapp 38 000 Menschen mehr als zwölf Stunden in der Notaufnahme ausharren, bevor sie auf eine Krankenhausstation verlegt wurden - dreieinhalb Mal so viele wie im Vorjahr.

Was im staatlichen Gesundheitssystem fehlt, ist nicht nur Geld, sondern vor allem auch Personal. Nach Angaben der Organisation NHS Poviders gibt es 133 000 offene Stellen. Nach dem Brexit können diese jedoch nicht mehr so leicht mit Arbeitskräften aus Europa besetzt werden.

Kein Wunder, dass viele Britinnen und Briten die Regierung für die Misere im Gesundheitswesen verantwortlich machen. Eine im Dezember veröffentlichte Yougov-Umfrage ergab, dass zwei Drittel der Befragten den Streik der Krankenschwestern und Pfleger unterstützen. Die Mehrheit sieht die Hauptschuld bei der Regierung. In Westminster gehen deshalb viele davon aus, dass Premier Sunak keine andere Wahl haben dürfte, als auf die NHS-Angestellten zuzugehen.

Anders ist die Lage bei den Bahnstreiks. Zum Wochenbeginn klang der Chef der Eisenbahngewerkschaft RMT schon ein wenig resigniert, als er sagte, dass die Regierung offenbar damit zufrieden sei, dass die Streiks weitergingen. Dem Vernehmen nach hoffen Sunak und sein Kabinett darauf, dass sich die öffentliche Meinung gegen die Bahn-Gewerkschaft richtet, die in den Augen der Regierung immer militanter auftritt. Erst vor Weihnachten hatte die Gewerkschaft ein Angebot abgelehnt, das für zwei Jahre jeweils vier Prozent mehr Lohn vorsah. Für diese Woche sind die Bahn-Angestellten nun erneut zum Arbeitskampf aufgerufen.

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