Süddeutsche Zeitung

Großbritannien:Schatzkanzler Hammond entzaubert die Brexit-Traumwelt

Lesezeit: 3 min

Der Finanzminister sagt, was sich sonst kaum einer traut: Dass der EU-Austritt sehr schmerzhaft werden wird.

Kommentar von Christian Zaschke

Philip Hammond ist das nüchternste Mitglied der britischen Regierung. Er ist ein Pragmatiker und wirkt in diesen post-faktischen Zeiten der Gefühls-politik wie ein Relikt. Der Finanzminister ist angenehm dröge, er ist fleißig, er hält nichts von Behauptungen und alles von den Fakten. Deshalb ist er den Befürwortern des EU-Austritts verdächtig. Wieder und wieder erlaubt sich Hammond, etwas auszusprechen, was die Brexit-Freunde partout nicht hören wollen: dass der Austritt unter Umständen schmerzhaft wird.

Hammond ist einer der wenigen konservativen Politiker, die sich noch trauen, kritisch über den Brexit zu reden. Die meisten schweigen mittlerweile, weil jede kritische Äußerung schärfste Angriffe nach sich zieht. Diese Attacken machen auch vor der Justiz nicht halt. Als kürzlich drei Richter am High Court entschieden, dass das Parlament befragt werden müsse, bevor Brüssel auch offiziell vom Austrittswunsch benachrichtigt wird, mussten sie sich von der Daily Mail als "Feinde des Volkes" beschimpfen lassen. Das Argument: Das Volk habe im Juni mehrheitlich für den Austritt gestimmt, damit seien alle Debatten beendet. Jetzt gehe es darum, den Brexit rasch umzusetzen. Alles andere sei undemokratisch.

In Wahrheit müsste die Debatte jetzt erst richtig beginnen. Weiterhin ist nämlich vollkommen unklar, was der Brexit bedeutet und wie er vollzogen werden soll. Mittlerweile ist es von beinahe grotesker Komik, wenn Premierministerin Theresa May sagt, sie könne keine Details verraten, da es unklug wäre, ihr Blatt schon vor Beginn des Pokerspiels mit Brüssel zu zeigen. Es ist offensichtlich, dass sie gar kein Blatt hat.

Der Brexit zieht das Land hinab, doch die Briten ignorieren alles

Dass das Votum umgesetzt werden muss, steht außer Frage. Wer das Volk befragt, muss sich anschließend auch dessen Willen beugen. Das darf aber nicht bedeuten, dass es keine Diskussion mehr geben darf. Demokratisch wäre es, in einer offenen Debatte zu überlegen, wie der Austritt zu bewerkstelligen wäre.

Die Vorstellungen mancher Brexit-Anhänger grenzen ans Wahnhafte. Es soll mehr Wachstum geben, eine strenge Einwanderungskontrolle, zugleich freien Handel mit der EU und jedem anderen Land in der Welt, und das möglichst zu britischen Bedingungen. Bisweilen klingt das sehr nach dem Wunsch, das Empire wieder zu errichten. Es ist eine Traumwelt. Theresa May spielt das Spiel mit und verspricht allen alles.

Klima der Einschüchterung und Aggression

Philip Hammond ist dafür nicht zu haben. Am Mittwoch stellte er den ersten Haushalt nach der Volksabstimmung vor: In den kommenden Jahren werde das Land ein langsameres Wachstum verzeichnen, zudem eine höhere Inflation und geringere Steuereinnahmen. Deshalb werde man mehr Schulden machen als geplant, konkret: 122 Milliarden Pfund, mehr als 140 Milliarden Euro. Interessant wird sein, wann die Hardliner den Überbringer der schlechten Botschaften abzusägen versuchen.

Die Labour-Partei ist noch immer mit sich selbst beschäftigt und kaum in der Lage, zu einer produktiven Diskussion beizutragen, was bedeutet: Über das wichtigste politische Thema seit Jahrzehnten wird auf der Insel nicht offen debattiert. Vielmehr stellt die Brexit-Presse, allen voran die skrupellose Daily Mail und der hysterische Daily Express, ein Klima der Einschüchterung und der Aggression her.

Weniger Prosecco aus Italien

Der Ton ist dabei nicht nur im Land schärfer geworden, sondern auch der EU gegenüber. Schon jetzt werden Schuldige für einen schwierigen Brexit in Brüssel gesucht. Wenn die EU tatsächlich darauf beharre, dass es ohne Freizügigkeit keinen Zugang zum Binnenmarkt gebe, dann müsse man von einer Drangsalierung sprechen. Eine große Pub-Kette droht, man werde französischen Wein, deutsches Bier und schwedischen Cidre boykottieren. Außenminister Boris Johnson drohte dem italienischen Industrieminister, dessen Land werde weniger Prosecco auf der Insel verkaufen, wenn der zollfreie Warenverkehr nicht gewährleistet sei. Noch bevor die Verhandlungen überhaupt begonnen haben, ist die Stimmung angespannt. Gut möglich, dass es den Brexit-Freunden gelingt, sie bis zum kommenden Jahr vollends zu vergiften.

Die Vorstellung des Haushalts ist übrigens die einzige Gelegenheit, bei der es im House of Commons gestattet ist, Alkohol zu trinken, und zwar nur dem Finanzminister. Kenneth Clarke trank Whisky, Benjamin Disraeli trank Brandy, William Gladstone trank Sherry mit rohem Ei. Nicht alle Finanzminister machten von diesem Recht Gebrauch, und doch ließ es sich als Symbol für die anstehenden Zeiten lesen, dass der Mahner Hammond während der Verlesung seines Haushalts der Einschränkung hin und wieder an einem Glas stillen Wassers nippte.

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Quelle:
SZ vom 24.11.2016
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